Die Sendung des Oberstleutnant Hentsch

1. 
Einleitung

Sind die Schuldzuweisungen berechtigt? So lautet der Untertitel dieser Abhandlung. Sie soll nicht auf die entscheidenden  t a k t i s c h e n  Maßnahmen der höheren Führung eingehen, sondern nur die Person des Oberstleutnant Hentsch, seinen Auftrag und die Umstände der Erteilung und seiner Durchführung näher untersuchen.
Dabei sollen vor allem die Beteiligten zu Wort kommen, denn viele Berufene und Unberufene haben sich später zu diesem Thema geäußert. Häufig wird von einer "unglücklichen Maßnahme" gesprochen, von "falschem Auslegen von Befehlen" und sogar indirekt von "Verrat, bedingt durch den Einfluß überstaatlicher Mächte" (General Ludendorff "Das Marnedrama, Der Fall Moltke - Hentsch"). Egal wie man nun die Vorgänge bezeichnet, Oberstleutnant Hentsch ist als die Person in die Geschichte eingegangen, die für den Abbruch der Marneschlacht gesorgt hat und dadurch bewirkt haben soll, daß, und hier gehen wir ins Extreme, der 1.Weltkrieg für Deutschland verloren war.

Um den Ablauf der Ereignisse näher kennen zu lernen, müssen wir uns einige Fragen stellen: Was geschah im Großen Hauptquartier vor Antritt der Fahrt Hentschs? Welche Vorgänge spielten sich damals am 8. und 9. September 1914 beim Besuch der Armeeoberkommandos 1 bis 5 tatsächlich ab, welche Befugnisse hatte er und vor allem, ist Hentsch später zu Recht zum "Buhmann" des Weltkrieges abgestempelt worden?

Um die Person dieses sächsischen Offiziers etwas näher kennen zu lernen, der bei der Obersten Heeresleitung (OHL) die Funktion des Nachrichtenoffiziers bekleidete und somit für die Beurteilung der Feindlage zuständig war, folgen wir zuerst den Ausführungen des Reichsarchivs Band 4, welches ihn als ungewöhnlich befähigten Generalstabsoffizier schildert. Er war eine Persönlichkeit, die zwar vor keiner Verantwortung zurückschreckte, aber nicht dazu neigte, in schwierigen Lagen das Höchste zu wagen. Das widersprach seinem gewissenhaften, vorsichtig abwägenden Wesen.  General v.Kuhl, sein langjähriger Vorgesetzter im Großen Generalstab, fügte hinzu, daß seine Zuverlässigkeit in jeder Beziehung erprobt war. Sicheres und bestimmtes Auftreten sowie ruhiges, klares und überzeugend wirkendes Urteil verliehen ihm in besonderem Maße die Fähigkeit, seine Mitmenschen zu beeinflussen. Der damalige bayerische Generalstabsoffizier Oberst Ritter v.Zoellner sagte, daß die Art seines stets meisterhaft knappen und klaren Vortrages in hohem Grade suggestiv wirkte.
 
 

Oberstleutnant Hentsch

Auch Generalfeldmarschall v.Mackensen, bei dessen Armeeoberkommando Hentsch später längere Zeit als Generalquartiermeister an der serbischen und rumänischen Front tätig war, schildert ihn in seinen Aufzeichnungen und Briefen über den Weltkrieg als einen bewährten und zuverlässigen Mitarbeiter.
General Baumgarten-Crusius schreibt in seinem Buch "Deutsche Heerführung im Marnefeldzug 1914" über Hentsch: "Er war ein sehr kluger, umsichtiger, in großen operativen Verhältnissen besonders bewandter Offizier. Man konnte sich unbedingt auf ihn verlassen."
In ähnlicher Form finden wir noch andere Schilderungen seines Charakters. Ob er tatsächlich, wie einzeln angedeutet wird, generell "zum Pessimismus neigte", ist zumindest umstritten. General v.Moser ist einer von denen, die Hentsch ihn in seinem Buch "Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg" zwar als "klug und vorsichtig, aber auch als schwarzseherisch bekannt" bezeichnen. Auch gibt es die Aussage des Hauptmann König, der einer der engsten Mitarbeiter von Hentsch war, daß dieser im Gegensatz zu vielen anderen höheren Offizieren der OHL die Lage des deutschen Westheeres, vor allem nach dem Kriegseintritt Englands und  t r o t z  der ersten deutschen schnellen Siege während des Vormarschs, für wesentlichen ernster hielt als diese (General Kabisch "Marneschlacht" und Reichsarchiv Band 4).

Wertet man alle diese Aussagen aus, so kommt man zu dem Schluß, daß die grundlegende Diskrepanz wohl in den Begriffen "Vorsicht" und "Pessimismus" liegt. Die einen, die versuchen, Hentsch mit aller Objektivität zu charakterisieren, benutzen den Begriff "Vorsicht", der sich durchaus positiv belegen läßt, z.B. mit dem Wort "Umsicht"!  Andere wiederum, die den Begriff "Pessimismus" gebrauchen, stellen ihn mit diesem Ausdruck von vorn herein in eine ganz bestimmte, negativ belegte Ecke. Über seine sonstige Qualifikation gibt es im Großen und Ganzen keine entscheidenden unterschiedlichen Aussagen.

In seiner Funktion gehörte er zusammen mit dem Chef der Operationsabteilung, v.Tappen, dem Chef der politischen Abteilung v.Dommes und dem Generalquartiermeister v.Stein zum engsten Mitarbeiterkreis des Chefs des Großen Generalstabes, Generaloberst v.Moltke. 
Und hier wollen wir auch ansetzen, bei einer Besprechung am 8.September morgens im Großen Hauptquartier in Luxemburg


 
 
2. 
Die Besprechung im Großen Hauptquartier und die Auftragserteilung

Am Abend des 7.Septembers hatte der Kaiser die Weisung ausgegeben: "Angreifen, solange es geht - auf keinen Fall einen Schritt zurück!" Aber Moltke war von Sorge bedrückt. In einem Brief an seine Gattin vom 7. schreibt er über die Last, die er zu tragen hätte und das ihn ein Grauen überkäme, wenn er an die Ströme von Blut denke, die schon geflossen seien (Moltke "Erinnerungen, Briefe, Dokumente"). So trug die Nachricht von der 1.Armee, daß diese am 8. den Erfolg sicherstellen könnte, zuerst zu einer Besserung seiner Stimmung bei. Aber sein Blick galt weiterhin, und zwar zu Recht, der Lücke, die sich zwischen der 1. und 2. Armee aufgetan hatte. Auch schien die Lage bei der 2.Armee kritisch zu werden. Wichtig war auch die Fliegermeldung, daß das westliche Belgien und Nordfrankreich feindfrei sei. Also konnte man Heringen endlich den Befehl endlich erteilen, daß seine 7.Armee aus dem südlichen Elsaß herausgezogen werden kann und an die rechte Flanke des Heeres umgruppiert werden soll.  So entschloß er sich zu einer Besprechung, an der der Chef der Operationsabteilung, Oberst Tappen, der Chef der politischen Abteilung, Oberst v.Dommes, und auch der Chef der Nachrichtenabteilung, Oberstleutnant Hentsch teilnahmen. Bedeutsam ist, daß der Generalquartiermeister v.Stein, der formelle Vertreter des Chefs des Generalstabes,  n i c h t  zu dieser Besprechung befohlen war. Erstaunlich ist auch, daß letzterer in seinem Buch "Erlebnisse und Betrachtungen aus der Zeit des Weltkriegs" nicht mit einem Wort auf diesen wichtigen Umstand eingeht!
 
 
 

Generaloberst v.Moltke, 
Chef des Großen Generalstabs
Generalleutnant v.Stein, 
Generalquartiermeister der OHL

Bedenklich stimmte Moltke, daß der Schlußsatz der Meldung des AOK 2 vom Vortage lautete: "Armee hat infolge starker Verluste nur noch Gefechtskraft von drei Korps." Aber, hatte die Armee damals nicht nur 3 1/2 Korps in der Front? Folglich konnten die Verluste doch nicht so dramatisch sein!  Der Chef des  Generalstabes kam immer wieder auf diesen Satz zurück. Tappen und Dommes konnten ihn schließlich umstimmen, indem sie auf die Tapferkeit und Durchhaltekraft der Truppen verwiesen. Hentsch beurteilte die Gefahr der Lücke negativer, als seine beiden Kollegen, äußerte sich jedoch nicht nach den Aussagen von Tappen und v.Dommes während der Besprechung. Schließlich wurde der Entschluß gefaßt, daß "jemand" die Lage vor Ort, also bei den AOK's prüfen solle. Aber wer sollte fahren?

Moltke beharrte auf dem Standpunkt, daß er in Luxemburg bleiben mußte, allein aus dem Grunde, um für den Kaiser verfügbar zu sein. Wenn man dieses Argument auch nicht unbedingt teilen kann, so läßt es sich in diesem Fall zumindest nicht völlig von der Hand weisen. Sollte aber schon nicht der oberste militärische Führer selber vorne Einfluß nehmen wollen, so wäre es doch naheliegend, wenigstens seinen Vertreter zu schicken! Aber v.Stein war ja noch nicht einmal bei der Besprechung anwesend. Tappen mußte ebenfalls bleiben, ihn wollte Moltke nicht entbehren. Oberst v.Dommes hatte sich angeboten, zu fahren, da er am entbehrlichsten erschien. Aber Moltke entschied sich für Hentsch, nicht zuletzt aus dem Grunde, "weil dieser schon einmal dort war" (General Kabisch, Marneschlacht).

Es stellt sich nun die Frage, ob diese Maßnahme überhaupt legitim war? Hierzu ist zu sagen, daß es, seit es Kriege gab, von den obersten Führern Verbindungsorgane zur Überbringung von Befehlen und Meldungen eingesetzt worden waren. Da ansonsten nur eine ohnehin oftmals gestörte Funkverbindung bestand, und das noch nicht einmal zu allen Armeen direkt, blieb gar keine andere Wahl, als sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Dazu war es durchaus militärisch einwandfrei, daß, wenn der oberste Führer nicht selber fuhr, ein von ihm Beauftragter Offizier dieses Unternehmen durchführte. Der entscheidende Aspekt ist nur, welchen Auftrag hatte der entsandte Offizier bekommen?

Vor allem in den Werken von General Baumgarten-Crusius "Deutsche Heerführung im Marnefeldzug 1914"  und im Reichsarchiv Band 4, aber auch bei General Kabisch "Marneschlacht" finden wir etliche Aussagen der beteiligten Offiziere. Fest steht, daß der Auftrag nicht schriftlich erteilt wurde, daß keiner der Beteiligten ein Protokoll über die Besprechung angefertigt hat, und daß auch Hentsch keinerlei Aufzeichnungen über seinen Auftrag während oder kurz nach der Besprechung gemacht hat! Dies ist durchaus als ungewöhnlich zu bezeichnen, denn bei der Bedeutung des Unternehmens hätte eine schriftliche Weisung Unklarheiten eher ausgeschlossen.
So müssen wir uns mit dem Beschränken, was überliefert ist.

Von Moltke wissen wir von einer Randbemerkung zum Kriegstagebuch der 1.Armee, wohl vom Februar 1915. Hier heißt es, daß "Hentsch nur den Auftrag hatte, der 1.Armee zu sagen, daß -  wenn der Rückzug nötig werden sollte - sie in die Linie Soissons-Fismes zurückgehen solle, um so Anschluß an die 2.Armee zu gewinnen. Er hatte keineswegs den Auftrag zu sagen,, daß der Rückzug unvermeidlich sei". Auch in seinem Bericht über den Rückzug vom 26.Juli 1915 äußerte sich Moltke ähnlich. Diese Äußerungen werden von Mitgliedern der OHL, speziell von Hauptmann Harbou und Oberst Dommes, später im Wesentlichen bestätigt.
Nach Mitteilungen von v.Dommes vom Frühjahr 1917 soll der Auftrag sogar noch beschränkter gewesen sein und gelautet haben: " F a l l s auf dem rechten Flügel bereits rückwärtige Bewegungen eingeleitet seien, solle Hentsch sie koordinieren".
Im Jahre 1920 erklärt v.Dommes dann, Hentsch hätte den Auftrag gehabt, "zu verhindern, daß die Armeen zurückgehen".
Und 1925 erklärt auch Tappen, daß nach seiner Erinnerung der Auftrag gelautet haben soll, daß "zu verhindern sei, daß die Armeen zurückgingen", und dies sei "besonders betont worden". Auch unterstreicht er, daß in der Besprechung stets vom "unbedingten Halten der Armeen" gesprochen worden sei.

Einig sind sich alle Teilnehmer an der Besprechung, daß Hentsch vor allem die Lage klären sollte. Während Tappen und v.Dommes allerdings behaupten, daß Hentsch nur bei bereits eingeleiteter Rückwärtsbewegung die Richtung koordinieren sollte, sieht es bei den Äußerungen Moltkes anders aus. Der Chef des Generalstabes will für den Fall Weisung erteilt haben, daß bei der 1.Armee "der Rückzug nötig werden sollte".
D i e s  i s t  e i n  g a n z  w i c h t i g e r  A s p e k t!
Denn es geht aus dieser Aussage nicht hervor,  w e r  über ein etwaiges Zurückgehen der 1.Armee zu entscheiden hätte.
Und genau hier ist der Ansatzpunkt, um festzustellen, daß Hentsch aus dieser Formulierung für sich eine Vollmacht abgeleitet haben könnte, eben über die Notwendigkeit  s e l b s t  entscheiden zu können und zu dürfen!

Hentsch selbst hat in einem Bericht vom 15.September 1914 angegeben, er habe bestimmte Ermächtigung, "im Notfall eine Rückwärtsbewegung der 1. bis 5.Armee ..... anzuordnen." Von besonderer Bedeutung ist, daß seinerzeit niemand der Beteiligten gegen diese Aussage Einspruch erhoben hat. Ob sie allerdings in der damaligen dramatischen Zeit in der Lage waren, den Bericht überhaupt eingehend zu studieren, muß fairerweise auch in Frage gestellt werden.
Auf Anordnung der OHL hatte Hentsch im Jahre 1917 einen weiteren Bericht zu verfassen. Darin sagt er, daß ihm ausdrücklich Vollmacht gegeben worden sei, im Namen der OHL Befehle zu erteilen. Sein damaliger Begleiter, Hauptmann König, hat dieser Aussage nicht widersprochen. Wenn diese Aussage so richtig ist, so ist es um so unverständlicher, daß sie nicht schriftlich fixiert worden ist! Auch General v.Moser berichtet in seinem Buch "Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg", daß Hentsch ihm bei einem zufälligen Treffen im April 1915 bestätigt habe, daß er (Hentsch) "... nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zu solcher Befehlserteilung zu haben glaubte."

Alles, was nach 1917 noch geschrieben wurde, geschah, als zwei der Hauptakteure schon verstorben waren, Moltke am 18.Juni 1916 und Hentsch selbst am 13.Februar 1918. Dieser Aspekt darf bei der Beurteilung der Aussagen nicht unberücksichtigt bleiben.

Und noch ein Vorgang, der auch von besonderer Bedeutung ist, sollte nicht unerwähnt bleiben. Hentsch hatte täglich in seiner Eigenschaft als Chef der Nachrichtenabteilung Sondervortrag bei Moltke zu halten. Dies geschah auch am 8.September 1914, und zwar  n a c h  der Besprechung, etwa zwischen 10.00 und 11.00 Uhr vormittags. Der Bürooffizier, Hauptmann König, bestätigt dies, und er spricht von einem Zeitraum von etwa einer Stunde, in der Moltke und Hentsch alleine gesprochen haben. Es liegt die Vermutung nahe, daß bei dieser Gelegenheit nochmals der Auftrag von Moltke erläutert wurde. Was jedoch im Einzelnen dabei zur Sprache kam, ist nicht überliefert.
Lediglich auf der Fahrt hat sich Hentsch bei König darüber beklagt, daß sein Auftrag nicht schriftlich festgehalten worden ist. Tappen und v.Dommes sind sich sicher, daß während der Besprechung Hentsch ein solches Ansinnen nicht gestellt haben soll. Völlig unklar ist auch die Tatsache, daß Hentsch entgegen der Festlegung bei der Besprechung, sofort zur 1.Armee zu fahren, er vorher zu den anderen AOK's (5 bis 2) gefahren ist. Bei den oben beschriebenen Eigenschaften seines Charakters ist eine Erklärung für dieses Verhalten schwer zu finden, es sei denn, es wäre ihm ausdrücklich  b e f o h l e n  worden. Auch dies spricht dafür, daß in dem Gespräch mit Moltke unter vier Augen manches gesagt wurde, was heute nicht bekannt ist! 


 
 
3. 
Hentsch bei den Armeeoberkommandos

Um ca. 11.00 vormittags verließ Hentsch im Kraftwagen Luxemburg, begleitet nur von den Hauptleuten König und Koeppen. Hier fiel die Äußerung, daß Hentsch es für sehr wichtig erachte, zuerst bei den anderen AOK vorbeizufahren, um "mit einem fertigen Bild der Lage bei AOK 2 und 1 zu erscheinen" (General Kabisch in "Marneschlacht", auch Reichsarchiv Band 4). Über den Zustand Hentsch gibt es unterschiedliche aussagen. König behauptet er sei "geistig und körperlich frisch gewesen". Der damalige Hauptmann im Generalstab v.Cochenhausen führt aus, daß Hentsch geklagt hätte, "daß er sich nicht wohl fühle". Fest steht, daß Hentsch kurz vor Beginn des Krieges eine Gallenkolik, verbunden mit hohem Fieber, gehabt hatte. Die Stimmung war, so König, "ernst aber  n i c h t  pessimistisch"! 
Hentsch traf etwa um 14.00 Uhr beim AOK 5 ein und erschien um ca. 16.15 Uhr beim AOK 4. Von den Vorgänge hier nahm er einen günstigen Eindruck mit. Beim AOK 3 traf er etwa um 17.45 Uhr ein und erhielt vom Chef des Generalstabes, Generalmajor Hoeppner, einen Bericht, durch den er weitere positive Eindrücke gewann. Man war im Kreise des Oberbefehlshabers Generaloberst Freiherr v.Hausen "durchaus zuversichtlich", und das Ausgeben eines Angriffsbefehls schien die Stimmung Hentschs merklich zu heben (v.Hausen "Erinnerungen an den Marnefeldzug"). Hentsch fügte von sich aus der Abendmeldung des AOK 3 an die OHL noch die Worte bei "Lage und Auffassung bei der 3.Armee durchaus günstig" (Reichsarchiv Band 4). Freiherr v.Hausen hatte nach seinen Angaben (v.Hausen "Erinnerungen an den Marnefeldzug") den Eindruck, "Hentsch sei "nur" als Nachrichtenoffizier der OHL anwesend, ohne besondere Vollmachten".
Hauptmann König berichtet, daß bei der Weiterfahrt zum AOK 2 Hentsch die Lage bisher als durchaus günstig bezeichnete und nur von einem "etwaigen" Zurückbiegen der rechten Flanke der 3.Armee gesprochen hätte. Von Pessimismus bis jetzt also keine Spur!
 
 
 

Generaloberst Freiherr v.Hausen,
Oberbefehlshaben der 3.Armee
Generaloberst v.Bülow,
Oberbefehlshaber der 2.Armee

Gegen 20.00 Uhr traf Hentsch beim AOK 2 ein. Sein erster Eindruck dort war nicht günstig. Ein irrtümlich zum Abmarsch nach Norden bereitstehender Troß irritierte ihn. Nachdem Generaloberst v.Bülow von einem Gefechtsstand zurückgekommen war, sprach Hentsch mit ihm und dem Chef des Generalstabes, Generalleutnant v.Lauenstein. Beide machten auf Hentsch einen zuverlässigen und ruhigen Eindruck. Nach den Aussagen der Beteiligten des AOK 2 war bis zu diesem Zeitpunkt von Rückzug nicht gesprochen worden. Allerdings wurde die Lage wegen der Lücke zur 1.Armee als "durchaus ernst" (v.Bülow "Mein Bericht zur Marneschlacht") angesehen. Der Oberbefehlshaber und Hentsch stimmten hierin völlig überein.
Der erste Generalstabsoffizier des AOK 2, Oberstleutnant Matthes, sagte aus (Reichsarchiv Band 4), daß Hentsch nach der Begrüßung zuerst mit Lauenstein alleine gesprochen habe. Anschließend seien die beiden zu ihm gekommen und Lauenstein habe gesagt, daß nach allem was er (von Hentsch) gehört habe, die Lage bei der 1.Armee noch viel ernster sei, als das AOK 2 sie beurteilt habe. "Nach Ansicht von Hentsch sei nicht mehr damit zu rechnen, daß die 1.Armee den Feind völlig abfertigen könne". Und weiter, "...es müsse mit der Möglichkeit eines Rückzuges hinter die Marne gerechnet werden". Hentsch verstärkte dann mit wenigen Sätzen diese Aussage nochmals.
Matthes betonte seinerzeit eindringlich, daß dies das erste Mal war, wo das Wort "Rückzug" gefallen sei!
Lauenstein ging anschließend zu Bülow, um ihm Vortrag zu halten. Über den Inhalt des Gesprächs  gibt es allerdings keine Aufzeichnungen und Aussagen, auch sind beide recht früh verstorben. Anschließend fand eine weitere Besprechung in größerem Kreise statt. Auch hier wurde kein Protokoll geführt. Nach Aussagen der Hauptleute König und Koeppen habe Bülow zuerst die Lage geschildert und betont, daß die Armee entscheidend an Schlagkraft eingebüßt habe. Demgegenüber sagte Hauptmann Thilo vom AOK 2 aus, daß Bülow "in Übereinstimmung mit den Unterführern die Schlagkraft für ungebrochen halte" (Reichsarchiv Band 4). Major König sagte zusätzlich in einem Bericht vom 13.Januar 1926 aus, daß entweder Bülow oder Matthes in Bezug auf die 2.Armee den Begriff "Schlacke" verwendet haben soll (Kabisch "Marneschlacht"). Diese Aussage, über 11 Jahre nach den Vorgängen aus dem Gedächtnis gemacht, ist schwer verständlich!
Der damalige Hauptmann Brinckmann berichtete, daß man  b e i  der 2.Armee  v o n  der 1.Armee häufiger von Schlacke gesprochen habe. Es liegt also äußerst nahe, daß hier eine Verwechslung stattgefunden hat.
Während der Besprechung wurde Lauenstein ans Telefon gerufen und bekam einige ungünstige Nachrichten vom rechten Flügel der Armee, denen Bülow jedoch keine größere Bedeutung beimaß, Hentsch jedoch beurteilte sie ernster. 
Nachdem Bülow geendet hatte, trug Hentsch die Auffassung der OHL vor und betonte die kritische Lage der 1.Armee, die große Gefahr liefe, umfaßt zu werden. "Diese müsse nötigenfalls zurück, er habe  V o l l m a c h t,  dies im Namen der OHL nötigenfalls zu befehlen" (Reichsarchiv Band 4). Bülow bemerkte hierzu, daß die Gefahr zwar bestehe, sie aber nicht "Tatsache sei". Über mögliche Bewegungen wurde anschließend gesprochen.
Ungeklärt ist, wer bei diesem Gespräch wen beeinflußt hat! Ob Bülow durch die Äußerungen Hentschs nun die Lage so ungünstig betrachtete, oder ob Hentsch durch -  möglicherweise falsch verstandene - Äußerungen Bülows und anderer, nun pessimistischer geworden war, das bleibt im Dunkeln der Geschichte. 
Nach dem Bericht von Matthes soll es jedenfalls Hentsch gewesen sein, der in Frage gestellt hatte, ob die 1.Armee überhaupt noch Bewegungsfreiheit habe. Die Schwierigkeiten dieser Armee hätten Bülow und Lauenstein durchaus zugegeben. Schließlich hatten sich einige Vorkommnisse ereignet, die diese Gedanken durchaus untermauern könnten. So hatte das AOK 1 am 7.September, anscheinend in größter Not, in die Befehlsbefugnisse des AOK 2 eingegriffen, als es dem zu diesem Zeitpinkt zur 2.Armee gehörenden IX.Armeekorps über den Kopf des AOK 2 hinweg Direktiven befahl. Auch einige Formulierungen in Nachrichten, wie "vorläufig" oder "sehr heftig", hatte beim AOK 2 zu nachdenklichen Überlegungen geführt (Reichsarchiv Band 4).
Von dem bevorstehenden  A n g r i f f  der 1.Armee, der schlachtentscheidend sein konnte, war an das AOK 2 keine Nachricht ergangen. Auch Hentsch, der davon noch in Luxemburg erfahren hatte, sagte nichts darüber. 
Im weiteren Verlauf gingen die Meinungen über erforderliche Maßnahmen jedoch erheblich auseinander. Hentsch wollte die Verbindung zwischen der 1. und 2.Armee nur durch einen Rückzug zustande bringen können, Bülow sprach von einem Heranziehen der 1. an die 2.Armee. Schließlich sprach der Oberbefehlshaber der 2.Armee die Hoffnung aus, daß die 1.Armee die Lage doch meistern werde und sich lösen könne, und bestimmte für den 9.September den Angriff seiner Armee auf dem linken Flügel zusammen mit den Sachsen der 3.Armee, der rechte Flügel solle weiter zurückgenommen werden. Hentsch bot sich an, bei der 1.Armee die Lage zu klären, und Bülow stimmte zu (General Kabisch "Marneschlacht).
Über diese Besprechung meldete Hentsch per Funkspruch an die OHL: "Lage der 2.Armee ernst, aber nicht aussichtslos" (Reichsarchiv Band 4)! Ungeklärt ist, warum vom AOK 2 an diesem Tage keine Abendmeldung an die OHL abging. So blieb Moltke im fernen Luxemburg schließlich doch mit quälender Ungewissheit allein.
Die Stimmung beim Abendessen war gedrückt, berichtete Matthes. Bald wurde zu Bett gegangen. Hentsch übernachtete beim AOK 2, um dann früh am nächsten Morgen weiterzufahren. Von Bedeutung ist noch die Aussage Matthes, daß sowohl er als auch Lauenstein Bülow daraufhin ansprachen, von Oberstleutnant Hentsch eine  s c h r i f t l i c h e  Vollmacht zu verlangen. Bülow lehnte dies jedoch ab und wies darauf hin, daß, wenn der Rückzug notwendig würde,  e r  die volle Verantwortung übernehmen und sie nicht auf Hentsch abschieben wolle (Reichsarchiv Band 4).
Weiterhin gibt es noch die Aussage des Rittmeisters v.Ernest, persönlicher Adjutant von Bülow. Dieser soll am nächsten Morgen "sehr verstimmt" gewesen sein. Ursache sei die Besprechung vom Abend davor gewesen. Der Oberbefehlshaber habe Hentsch "einen schrecklichen Pessimisten" genannt und von Rückzug nicht gesprochen. Auch Oberstleutnant Prinz August Wilhelm v.Preußen, dem AOK 2 zugeteilt, sprach am nächsten Morgen bei einem kurzen Spaziergang mit Bülow. Dieser hätte sich dahingehend geäußert, daß "man" (die OHL in Form von Hentsch) ihn zum Rückzug zwingen wolle, er aber die Lage als nicht so schlimm ansehe und  n i c h t  w o l l e  (Reichsarchiv Band 4 und General Kabisch "Marneschlacht")! Der Oberbefehlshaber der 2.Armee selbst schreibt in seinem Buch "Mein Bericht zur Marneschlacht", "... daß der Rückzug der 1.Armee nach der taktischen und operativen Lage unvermeidlich war, und daß auch die 2.Armee zurückgehen mußte ..."; dies stellte er am 9.September "in Übereinstimmung mit dem Vertreter der OHL (Hentsch)" fest.

Nach einem kurzen Gespräch am nächsten Morgen mit Lauenstein trat Hentsch um 07.00 Uhr die Fahrt zum AOK 1 an. Über das Bild, daß sich ihm und seinen Begleitern hinter der Front im Bereich der Lücke bot, gibt es unterschiedliche Aussagen. Hentsch selbst spricht in seinem Bericht von "zurückflutenden Trainabteilungen und Verwundeten der Kavallerie-Divisionen. Koeppen sieht diese Aussage hingegen als übertrieben an. Von "panikartigen" Vorgängen hätte er, im Gegensatz zu Hentsch, nichts feststellen können. Hier scheint es, als ob Hentsch, der aus der Ruhe der OHL in Luxemburg kam, die Dinge wirklich überschätzt hat. Denn der Oberbefehlshaber der 1.Armee, Generaloberst v.Kluck, hat in einer Zuschrift an das Reichsarchiv ausdrücklich das gute Verhalten der Kolonnen und ihrer Führer gewürdigt. Die starke Vermischung der Verbände in der damaligen Situation war eigentlich ganz natürlich und hätte bei Hentsch keine Sorgen hervorrufen dürfen. Hauptmann König berichtete, daß Hentsch mehr und mehr die Überzeugung gewann, die 1.Armee  m ü s s e  zurückgehen. In seinem Bericht vom jahre 1917 hielt er sich spätestens jetzt für berechtigt, den Rückzug im Namen der OHL zu befehlen. Dabei war seine Überlegung die, daß ein freiwilliger Rückzug das verhindern sollte, was er bei einer Umfassung befürchtete: Eine Katastrophe!

Gegen 12.30 Uhr traf Hentsch beim AOK 1 ein. Hier begann sich gerade die morgens doch sehr gespannte Lage, bedingt durch das Überschreiten der Marne durch die englische Truppen, etwas zu beruhigen. Man war in sicherer Erwartung des Sieges auf dem rechten Flügel. Schon auf der Dorfstraße trafen der Chef des Generalstabes, Generalleutnant v.Kuhl, und Hentsch zusammen und hatten ein erstes Gespräch. Kuhl wird von allen Beteiligten als absolut ruhig geschildert. Hentsch behauptet allerdings, Kuhl habe gesagt, daß wenn "die zweite Armee ihre Flügel zurückgebogen habe, wir uns auch nicht halten können" (Reichsarchiv Band 4). Kuhl stellt diese Äußerung in Abrede. Im übrigen wußte Hentsch ja vom Vortag von der Absicht Bülows, seinen rechten Flügel zurückzunehmen. Dennoch scheint er von der  T a t s a c h e  nun überrascht worden zu sein. Aus diesen Äußerungen will Hentsch geschlossen haben, daß "der allgemeine Rückzug bereits auch bei der 1.Armee eingeleitet worden sei" (Reichsarchiv Band 4). 
 
 
 

Das Oberkommando der 1.Armee während der Marneschlacht:
links: der Oberquartiermeister Oberst v.Bergmann
mitte: der Oberbefehlshaber Generaloberst v.Kluck
rechts: der Chef des Generalstabs Generalleutnant v.Kuhl

Sowohl Kuhl, als auch der Oberquartiermeister Oberst v.Bergmann, bestreitet auf das Äußerste, daß seitens des AOK 1 eine solche Äußerung gefallen sei. Auch die Begleiter Hentschs haben nichts davon gehört. Möglicherweise hat Hentsch die erste Äußerung Kuhls tatsächlich in der Anspannung der Lage falsch interpretiert. 
Schließlich fand im Geschäftszimmer des AOK eine eingehende Aussprache statt. Kuhl und Bergmann entwickelten eine durchaus günstige Beurteilung der Lage. Die Gefahr am linken Flügel werde durch die Entsendung der 5.Infanterie-Division gebannt. Außerdem sei der Zustand der englischen Truppen in der Lücke nach den vorherigen Niederlagen ziemlich desolat, ihr Vorgehen sehr zögerlich. Auf dem rechten Flügel stehe die Schlacht gut, man umklammere nun dort den feindlichen linken Flügel.

Entscheidend ist nun die Frage, wie diese Ausführungen auf Hentsch gewirkt haben. General Kabisch schreibt in seinem Buch "Marneschlacht" davon, daß Hentsch die bekannten eingelernten Worte "ordre - contreordre - desordre" (Befehl - Gegenbefehl - Verwirrung) durch den Kopf gegangen sein könnten. Bergmann hatte jedenfalls den Eindruck, daß nach diesem Vortrage Kuhls Hentsch zum ersten Mal die  w a h r e  Lage gesehen hatte. Er schreibt: "Die Überraschung war deutlich auf seinem (Hentschs) Gesicht zu lesen" (Reichsarchiv Band 4). Hentsch sagte in seinem Bericht vom jahre 1917, daß er anschließend einige Fragen gestellt habe. Die bedeutsamste war die: "Ob eine sofortige Unterstützung der 2.Armee möglich sei, und ob die 1.Armee imstande wäre, die 2. am nächsten Tage mit ganzer Kraft zu unterstützen, wenn es ihr gelänge, am 9. den eigenen Feind zu schlagen" (Reichsarchiv Band 4). Erst als Kuhl dies mit dem Zusatz "mit Rücksicht auf den Zustand der Armee" verneint habe, habe er von seiner Vollmacht Gebrauch gemacht.
Diesen Vorgang bestreiten Kuhl und Bergmann entschieden. Hentsch hätte ausgeführt, daß es nach einer Reihe von Rückschlägen nötig sei, die Armeen erst einmal vom Feinde abzusetzen. Die zu erreichenden Linien hätte Hentsch mit Kohle in die Karte eingezeichnet.
Kuhl widersetzte sich den Vorstellungen Hentschs entschieden und wurde dabei von Bergmann unterstützt. Vor allem wurde von beiden auf die besonderen Gefahren hingewiesen, in diesem Augenblick, mitten im siegreichen Vorgehen, die Armee umzudirigieren. Hentsch gibt in seinem Bericht vom 15.September 1914 auch zu, daß immer wieder von diesen beiden Offizieren darauf hingewiesen wurde, daß sich am linken Flügel die Situation nach der Entsendung der 5.Infanterie-Division als nicht mehr so dramatisch darstelle. 

Allen Einwendungen von Kuhl und Bergmann begegnete Hentsch jedoch immer mit dem Hinweis, die 2.Armee hätte ihren Rückzug schon eingeleitet. Wieso er dies als  T a t s a c h e  darstellte, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Möglicherweise  g l a u b t e  er, daß der Vorgang schon eingeleitet worden sei.
Schließlich erklärte Hentsch, er habe Vollmacht, der 1.Armee im Namen der OHL den Rückzug zu befehlen (Reichsarchiv Band 4). Kuhl widersetzte sich erneut und wies nochmals auf die Situation am rechten Flügel hin. Zu diesem Zeitpunkt war es etwa 13.00 Uhr. Hentsch meinte, für eine Offensive sei es nun zu spät (?), die 2.Armee sei bereits im Zurückgehen. Nach allem, was Bülow auch nur in Erwägung gezogen hatte,  k o n n t e  die 2.Armee aber zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zugegangen sein! Hier nochmals der Hinweis auf die Bemerkung Kuhls von der Dorfstraße bzgl. des Umbiegens des  r e c h t e n  F l ü g e l s der 2.Armee und das mögliche Mißverstehen.

Kuhl gibt an, daß nach seinem Nachfragen, wieso Bülow zurückgehe, Hentsch geantwortet haben soll, "Die 2.Armee sei nur noch Schlacke" (Reichsarchiv Band 4).
Es fällt auf, daß beim AOK 2 die 1.Armee, umgekehrt beim AOK 1 die 2.Armee nur noch Schlacke sein sollte. Keiner wußte also genau, was beim Nachbarn passierte!

Diese Worte machten allerdings auf Kuhl und Bergmann einen tiefen Eindruck. Für sie war ausschlaggebend, daß die Nachbararmee geschlagen war. Kurz und knapp befahl Hentsch den Rückzug mit der Bemerkung, diese Direktive bleibe maßgebend, auch bei etwa eingehenden anderweitigen Mitteilungen.
Unter diesen Umständen glaubte Kuhl, sich fügen zu müssen. Es war unmöglich, daß links zurückgegangen werde, während rechts angegriffen würde. Die Flanken wären dadurch dann völlig entblößt worden.

So waren die Würfel gefallen!

Eine Rückfrage bei der OHL war wegen der langwierigen Funkverbindung nicht möglich, eine Telefonleitung bestand nicht. Zweifel seien sowohl Bergmann als auch Kuhl nicht gekommen, da Hentsch ruhig und überzeugend vorgetragen hätte.
Anschließend begab sich Kuhl zu Kluck, der an dem Gespräch nicht teilgenommen hatte. Nach dem Vortrag beim Oberbefehlshaber mußte dieser "schweren Herzens", so Kuhl, dem Befehl Folge leisten.
Es stellt sich die Frage, warum der Oberbefehlshaber der Besprechung nicht persönlich beigewohnt hatte. Hierzu schreibt Kluck in seinem Buch "Der Marsch auf Paris und die Marneschlacht 1914" folgendes: "... dessen (Hentschs) Ankunft dem Oberbefehlshaber erst nach seiner (Hentschs) beschleunigten Abfahrt bekannt wurde - ein bedauerlicher Umstand, der durch persönliche Meldung des Oberstleutnant beim Armeeführer zu vermeiden war; dieser (Kluck) hielt sich in der Nähe vom Ort der obigen Zusammenkunft auf!"
Und einige Absätze weiter unterstreicht Kluck nochmals seine Auffassung: "Eine derartige, die Lage von Grund aus in veränderte Beleuchtung setzende Nachricht war, um es nochmals zu betonen, vom Oberstleutnant Hentsch unmittelbar an den Oberbefehlshaber der 1.Armee zu leiten!"
(Generaloberst v.Kluck "Der Marsch auf Paris und die Marneschlacht 1914").
Ein Verlangen Hentschs nach einer Meldung bei Kluck wäre bestimmt nicht negativ beschieden worden. Ob Kuhl verpflichtet war, Hentsch zu einer Meldung bei Kluck zu bewegen, verneint dieser. Auch wäre es doch noch möglich gewesen, Hentsch noch aufzuhalten, wenn Kluck nach dem Vortrage seines Generalstabschef auf ein persönliches Gespräch  g e d r u n g e n  hätte.

General Baumgarten-Crusius spricht in seinem Buch "Deutsche Heerführung im Marnefeldzug 1914" von einem "psychologischen Rätsel", wie zwei Führernaturen vom Schlage Klucks und Kuhls sich in dieser Form haben überzeugen lassen. Verantwortungsscheu hatten sie bisher absolut nicht gehandelt. Hier sei nochmals, auch durch Oberst Schwertfeger, der Hentsch als Altersgenosse sehr gut kannte, daraufhin gewiesen, daß viele Hentsch als "Mann von Klarheit und absoluter Überzeugungskraft" schilderten. Waren Kuhl und Kluck dieser erlegen?

Hentsch fuhr anschließend zum AOK 3, schickte aber Koeppen zum AOK 2 mit dem Auftrag, zu erläutern, wie der Rückzug vonstatten gehen sollte. Entgegen der Vereinbarung mit Kuhl wurde als linker Flügelpunkt der 1.Armee nicht Soissons, sondern Fismes genannt. Letzterer war der von Moltke bestimmte Punkt. Es bleibt ungeklärt, warum Hentsch bei Kuhl Soissons befohlen hatte. 

Zu allem Unglück kamen jetzt noch ein weiteres Mißverständnis hinzu. Um ca. 13.00 Uhr, als Hentsch noch beim AOK 1 war, lief bei Bülow ein Funkspruch ein, der von einem  t a k t i s c h e n Zurückbiegen des linken Flügels der 1.Armee sprach und hierzu Aufträge an die Unterführer beinhaltete. Von der 2.Armee wurde dieser Funkspruch jedoch als die lang erwartete Antwort von Hentsch angesehen, der ja versprochen hatte, bei der 1.Armee die Lage zu klären. Man erblickte in dem Zurücknehmen des linken Flügels die Einleitung des allgemeinen Rückzuges. Hentsch schien also doch recht gehabt zu haben. Nun schien auch für Bülow der letzte Moment gekommen, sich doch noch vom Feinde absetzen zu können. Lauenstein entwarf persönlich die meldung an die OHL, in der es hieß: "Nach Mitteilung Hentsch geht 1.Armee zurück, linker Flügel ..." (Reichsarchiv Band 4)! Aus dieser erst 14.30 Uhr nachmittags abgegangenen Meldung wurden dann allerdings die Worte "Auf Mitteilung Hentsch" gestrichen - offenbar war aufgefallen, daß der Funkspruch vom AOK 1 und nicht von Hentsch unterzeichnet war. Geändert wurde an den Befehlen zum Rückzug jedoch nichts mehr. 

Beim AOK 3 wurde Hentsch um klare Mitteilungen ersucht. Dieser schilderte kurz die Situation. Hausen zitiert dann Hentsch in seinem Buch "Erinnerungen an den Marnefeldzug 1914" wie folgt: "Das AOK 3 möge daher auf seine Verantwortung (also auf Verantwortung des AOK 3 !) hin so handeln, wie das Oberkommando es mit Rücksicht auf die 2.Armee für richtig halte". In diesem Augenblick traf ein Funkspruch der OHL ein, der für die 3.Armee weiterhin die Offensive vorsah! Wieder Gegensätze und Durcheinander! Erst abends um 19.15 Uhr erhielt das AOK 3 Nachricht, das die 2.Armee im Zurückgehen begriffen war. Um 20.00 Uhr kam dann nochmals Nachricht von der OHL, die die Bewegungen der 2. Armee bestätigte. Nun beugte sich auch das AOK 3 dem Lauf der Ereignisse.

Damit war bei der 1. und 2.Armee die Entscheidung gefallen, und die Kettenreaktion setzte sich entlang der Front über die 3. und 4. Armee bis zur 5. fort!

Nach seiner Rückkehr ins Große Hauptquartier hatte Hentsch die Überzeugung, so schreibt er in seinem Bericht aus dem Jahr 1917, daß man mit seinen Maßnahmen durchweg einverstanden war (General Baumgarten-Crusius "Deutsche Heerführung im Marnefeldzug 1914").


 
 
4. 
Schlußbetrachtungen

Wir wollen unsere Betrachtungen an dieser Stelle abbrechen, alles Weitere ist taktischer Natur und hat auf die strategischen Auswirkungen nur untergeordneten Einfluß. Sicher ist, daß diese Ereignisse von entscheidender Bedeutung für den Weltkrieg waren. Vieles ist im Dunkeln geblieben und wird wohl nie ans Tageslicht kommen. Einiges ist unverständlich, aber wichtige Fragen konnten auch geklärt werden.
Ob es sinnvoll war, daß Moltke nicht selber fuhr, darüber kann man geteilter Meinung sein.  Wenn aber die Argumente für ein Verbleiben im Großen Hauptquartier in Luxemburg tatsächlich überwiegen, dann stellt sich sofort die Frage, ob Hentsch in seiner  F u n k t i o n  der Richtige war, der die Auffassung des Chefs des Generalstabes vertreten sollte. Es ist absolut unverständlich, das Moltke nicht seinen Vertreter, den Generalleutnant v.Stein geschickt hat. Dieser hätte, allein von seiner Stellung her, den Auftrag übernehmen müssen. Warum er völlig übergangen wurde, ist nicht geklärt. Zur Verfügung hätte er jedenfalls gestanden. Daß Moltke Tappen nicht schicken wollte, ist zu verstehen. Aber warum auch Dommes übergangen worden ist, bleibt wiederum unklar. Das Argument, Hentsch war schon einmal vorne, ist äußerst dürftig. 

Wir müssen also zusammenfassen, daß 1. es zumindest zweckmäßiger gewesen wäre, wenn Moltke selbst gefahren wäre, daß 2. die Maßnahme an sich, einen Offizier in seinem Auftrag zu senden, nicht zu kritisieren ist, daß 3. die Person des Chefs der Nachrichtenabteilung mit Sicherheit nicht die richtige gewesen ist, daß 4. sich Hentsch nicht aus welchen Gründen auch immer um diesen Auftrag bemüht hat und ihm falscher Ehrgeiz nicht vorgeworfen werden kann und daß 5. Oberstleutnant Hentsch als Mensch und Offizier, wenn er denn schon fahren mußte, keinen Beanstandungen unterlag. Dies ist auch eigentlich völlig logisch, denn wenn er menschliche Schwächen, gleich welcher Art und Weise, gehabt hätte, dann wäre er auch auf seinem eigentlichen Dienstposten absolut fehl am Platze.
Was also diesen Bereich betrifft, so ist Hentsch kein Vorwurf zu machen. Die Kritik muß eindeutig bei Moltke ansetzen.

Kommen wir nun zu den Umständen der Auftragserteilung. Hier sticht eine Problematik ganz entscheidend hervor - das Fehlen jeglicher schriftlicher Weisung. Einen Offizier mit einem solchen brisanten Auftrag loszuschicken, ohne auch nur das Geringste schriftlich zu fixieren, grenzt schon an grobe Fahrlässigkeit. Hier kann auch das Problem des Zeitdrucks nicht als Argument gelten gelassen werden. Selbst eine handschriftliche Direktive hätte allen Beteiligten geholfen. Die Tatsache, daß bis heute Unklarheit darüber herrscht, ob Hentsch, und wenn ja unter welchen Umständen, Befehle im Namen der OHL erteilen durfte, beweist das. Moltke hätte sich selbst dadurch absichern können, und Hentsch wäre die Durchführung des Auftrags wesentlich erleichtert worden. Seine Befugnisse wären für  a l l e  Beteiligten klar umrissen gewesen. So bleibt nur das Fazit, daß Moltke hier sträflich versagt hat. Hentsch hat, und das ist durch mehrere Aussagen bestätigt worden, immer wieder das Fehlen eines schriftlichen Auftrags oder Vollmacht bedauert. Ihm kann man hier keine Schuld zuweisen.

Bleibt noch zu besprechen, wie die Durchführung des Auftrags zu bewerten ist. Hier stehen wir vor dem großen Problem, daß wir die Befugnisse nicht haben klären können, weil uns der genaue Wortlaut des Auftrags nicht bekannt wurde. Und dennoch, es gibt eine Reihe von Hinweisen, die es Wert sind, abschließend nochmals aufgezeigt zu werden. Bis zu seinem Aufenthalt beim AOK 3 schien für Hentsch die Lage noch günstig zu sein. Dies beweist auch die Meldung zu diesem Zeitpunkt an die OHL. Dann aber scheint es, als ob er, verstärkt durch die extrem unterschiedlichen Einflüsse in Form von Meldungen und Besprechungen, immer stärker ins Schwanken geriet. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, das wird immer wieder hervorgehoben. Aber die Unklarheiten nahmen doch zu. Man ist versucht zu sagen, daß die Last, die er trug, immer stärker wurde. Und diese drückende Last schien ihn Dinge verwechseln zu lassen. Der unterschiedliche Gebrauch des Wortes "Schlacke" in Bezug auf die 1. und 2.Armee, die mögliche mißverständliche Interpretation der Äußerung Kuhls bezüglich der linken Flanke der 1.Armee, und ganz besonders das Beharren auf dem angeblichen Rückzugs der 2.Armee, die schon geschlagen sein sollte, das alles sind Fakten, die zeigen, daß er vielleicht nicht mehr alle Vorgänge überblickte, daß man ihn zu diesem Zeitpunkt als überfordert betrachten kann. Hier wäre eben ein Mann wie der Chef des Generalstabes selbst oder ein Offizier der Operationsabteilung besser am Platz gewesen. Egal wie der Auftrag auch gelautet haben mag, Hentsch ist nicht vorrangig geschickt worden, um den Rückzug  a u f  j e d e n  F a l l  zu befehlen, sondern, wenn überhaupt, nur im Notfall. Und dieser Spielraum, wenn es ihn gegeben hat, ist Hentsch zum Verhängnis geworden. Als Nachrichtenoffizier aus dem ruhigen Hauptquartier in die Hexenkessel der Stäbe vorn zu kommen, dort alle Situationen sofort richtig einzuschätzen, die Last der Verantwortung für das Scheitern des Feldzugs mit sich tragend, daß alles war wohl zu viel.
Guten Willen und Pflichteifer kann man ihm sicher unterstellen. Ob er aber in allen Lagen, denen er ausgesetzt war, die richtigen Schlüsse gezogen hat, das darf bezweifelt werden. Jedenfalls scheint es, als ob die durchaus überzeugenden Argumente der AOK's nichts genutzt hätten. Gegen Ende der Fahrt scheint es tatsächlich so, als ob sein Entschluß gefaßt sei. Denn die Art und Weise, wie er das AOK 1 dazu gebracht hat, sich seiner Meinung anzuschließen, das ist, gelinde ausgedrückt, höchst erstaunlich und berechtigt zu der Vermutung, daß es ihm nur noch darum ging, seine Vorstellung durchzusetzen, und zwar mit allen Mitteln, wenn auch in guter Absicht.
Somit kann man bei der Bewertung der Durchführung seines Auftrags nicht an dem Vorwurf  vorbeikommen, daß er nicht  v ö l l i g  objektiv an die Aufgabe herangegangen ist. Wie immer auch der Auftrag im Detail gelautet haben mag, seine Aufgabe war in erster Linie, die Lage festzustellen, und nur in einem Notfall zu handeln. Daß eine solche Notlage gegeben war, ist zu bestreiten. Krisen oder kritische Momente sind etwas ganz anderes als ein Notfall. Wenn man bedenkt wie oft kritische Momente in anderen Schlachten aufgetreten sind, die dann erfolgreich durchgekämpft wurden, so kann man in diesem Fall, zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, als Hentsch seine Befehle gab, von einer solchen Notlage sprechen.
Betrachtet man also diesen Aspekt separat, so kann man Hentsch von einer Schuldzuweisung nicht freisprechen. Denn immer hätte er sich vor Augen halten müssen, was seine Maßnahmen für Folgen haben würden, nicht nur strategischer, sondern auch psychischer Natur, und zwar für beide Seiten.

Es bleibt noch anzumerken, daß die OHL Hindenburg/Ludendorff nach dem Bericht von Hentsch im Jahre 1917 diesen "offiziell" von jeder Schuld freisprach, und diese Entscheidung bis zu den Divisionsstäben bekannt gegeben hatte (General Baumgarten-Crusius "Deutsche Heerführung im Marnefeldzug 1914"). An den oben angeführten Kritiken kann das jedoch nichts ändern, zumal andere Heerführer des Weltkriegs sich dem Urteil der OHL nicht angeschlossen haben. General v.Francois schreibt z.B. in seinem Buch "Marneschlacht und Tannenberg", daß Hentsch nicht ermächtigt war, einen Rückzugsbefehl zu erteilen. Nur bereits eingeleitete rückgängige Bewegungen durfte er im Namen der OHL dirigieren. "Er hat seine Befugnisse demnach überschritten und ist mitschuldig an dem großen Unheil, das der Rückzugsbefehl über uns brachte."

So kann man letztlich nur mit den Worten des Generals v.Kuhl schließen, der in seinem Werk "Der Weltkrieg 1914/18" das traurige Fazit zieht: "Die Schlacht an der Marne war der Wendepunkt des Krieges."


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