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Einleitung Sind die Schuldzuweisungen berechtigt? So
lautet der
Untertitel dieser Abhandlung. Sie soll nicht auf die
entscheidenden
t a k t i s c h e n Maßnahmen der höheren Führung
eingehen, sondern nur die Person des Oberstleutnant Hentsch, seinen
Auftrag
und die Umstände der Erteilung und seiner Durchführung
näher
untersuchen.
Um den Ablauf der Ereignisse näher kennen zu lernen, müssen wir uns einige Fragen stellen: Was geschah im Großen Hauptquartier vor Antritt der Fahrt Hentschs? Welche Vorgänge spielten sich damals am 8. und 9. September 1914 beim Besuch der Armeeoberkommandos 1 bis 5 tatsächlich ab, welche Befugnisse hatte er und vor allem, ist Hentsch später zu Recht zum "Buhmann" des Weltkrieges abgestempelt worden? Um die Person dieses sächsischen
Offiziers etwas
näher kennen zu lernen, der bei der Obersten Heeresleitung (OHL)
die
Funktion des Nachrichtenoffiziers bekleidete und somit für die
Beurteilung
der Feindlage zuständig war, folgen wir zuerst den
Ausführungen
des Reichsarchivs Band 4, welches ihn als ungewöhnlich
befähigten
Generalstabsoffizier schildert. Er war eine Persönlichkeit, die
zwar
vor keiner Verantwortung zurückschreckte, aber nicht dazu neigte,
in schwierigen Lagen das Höchste zu wagen. Das widersprach seinem
gewissenhaften, vorsichtig abwägenden Wesen. General v.Kuhl,
sein langjähriger Vorgesetzter im Großen Generalstab,
fügte
hinzu, daß seine Zuverlässigkeit in jeder Beziehung erprobt
war. Sicheres und bestimmtes Auftreten sowie ruhiges, klares und
überzeugend
wirkendes Urteil verliehen ihm in besonderem Maße die
Fähigkeit,
seine Mitmenschen zu beeinflussen. Der damalige bayerische
Generalstabsoffizier
Oberst Ritter v.Zoellner sagte, daß die Art seines stets
meisterhaft
knappen und klaren Vortrages in hohem Grade suggestiv wirkte.
Auch Generalfeldmarschall v.Mackensen, bei
dessen Armeeoberkommando
Hentsch später längere Zeit als Generalquartiermeister an der
serbischen und rumänischen Front tätig war, schildert ihn in
seinen Aufzeichnungen und Briefen über den Weltkrieg als einen
bewährten
und zuverlässigen Mitarbeiter.
Wertet man alle diese Aussagen aus, so kommt man zu dem Schluß, daß die grundlegende Diskrepanz wohl in den Begriffen "Vorsicht" und "Pessimismus" liegt. Die einen, die versuchen, Hentsch mit aller Objektivität zu charakterisieren, benutzen den Begriff "Vorsicht", der sich durchaus positiv belegen läßt, z.B. mit dem Wort "Umsicht"! Andere wiederum, die den Begriff "Pessimismus" gebrauchen, stellen ihn mit diesem Ausdruck von vorn herein in eine ganz bestimmte, negativ belegte Ecke. Über seine sonstige Qualifikation gibt es im Großen und Ganzen keine entscheidenden unterschiedlichen Aussagen. In seiner Funktion gehörte er zusammen
mit dem
Chef der Operationsabteilung, v.Tappen, dem Chef der politischen
Abteilung
v.Dommes und dem Generalquartiermeister v.Stein zum engsten
Mitarbeiterkreis
des Chefs des Großen Generalstabes, Generaloberst v.Moltke.
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Die Besprechung im Großen Hauptquartier und die Auftragserteilung Am Abend des 7.Septembers hatte der Kaiser
die Weisung
ausgegeben: "Angreifen, solange es geht - auf keinen Fall einen Schritt
zurück!" Aber Moltke war von Sorge bedrückt. In einem Brief
an
seine Gattin vom 7. schreibt er über die Last, die er zu tragen
hätte
und das ihn ein Grauen überkäme, wenn er an die Ströme
von
Blut denke, die schon geflossen seien (Moltke "Erinnerungen, Briefe,
Dokumente").
So trug die Nachricht von der 1.Armee, daß diese am 8. den Erfolg
sicherstellen könnte, zuerst zu einer Besserung seiner Stimmung
bei.
Aber sein Blick galt weiterhin, und zwar zu Recht, der Lücke, die
sich zwischen der 1. und 2. Armee aufgetan hatte. Auch schien die Lage
bei der 2.Armee kritisch zu werden. Wichtig war auch die
Fliegermeldung,
daß das westliche Belgien und Nordfrankreich feindfrei sei. Also
konnte man Heringen endlich den Befehl endlich erteilen, daß
seine
7.Armee aus dem südlichen Elsaß herausgezogen werden kann
und
an die rechte Flanke des Heeres umgruppiert werden soll. So
entschloß
er sich zu einer Besprechung, an der der Chef der Operationsabteilung,
Oberst Tappen, der Chef der politischen Abteilung, Oberst v.Dommes, und
auch der Chef der Nachrichtenabteilung, Oberstleutnant Hentsch
teilnahmen.
Bedeutsam ist, daß der Generalquartiermeister v.Stein, der
formelle
Vertreter des Chefs des Generalstabes, n i c h t zu dieser
Besprechung befohlen war. Erstaunlich ist auch, daß letzterer in
seinem Buch "Erlebnisse und Betrachtungen aus der Zeit des Weltkriegs"
nicht mit einem Wort auf diesen wichtigen Umstand eingeht!
Bedenklich stimmte Moltke, daß der Schlußsatz der Meldung des AOK 2 vom Vortage lautete: "Armee hat infolge starker Verluste nur noch Gefechtskraft von drei Korps." Aber, hatte die Armee damals nicht nur 3 1/2 Korps in der Front? Folglich konnten die Verluste doch nicht so dramatisch sein! Der Chef des Generalstabes kam immer wieder auf diesen Satz zurück. Tappen und Dommes konnten ihn schließlich umstimmen, indem sie auf die Tapferkeit und Durchhaltekraft der Truppen verwiesen. Hentsch beurteilte die Gefahr der Lücke negativer, als seine beiden Kollegen, äußerte sich jedoch nicht nach den Aussagen von Tappen und v.Dommes während der Besprechung. Schließlich wurde der Entschluß gefaßt, daß "jemand" die Lage vor Ort, also bei den AOK's prüfen solle. Aber wer sollte fahren? Moltke beharrte auf dem Standpunkt, daß er in Luxemburg bleiben mußte, allein aus dem Grunde, um für den Kaiser verfügbar zu sein. Wenn man dieses Argument auch nicht unbedingt teilen kann, so läßt es sich in diesem Fall zumindest nicht völlig von der Hand weisen. Sollte aber schon nicht der oberste militärische Führer selber vorne Einfluß nehmen wollen, so wäre es doch naheliegend, wenigstens seinen Vertreter zu schicken! Aber v.Stein war ja noch nicht einmal bei der Besprechung anwesend. Tappen mußte ebenfalls bleiben, ihn wollte Moltke nicht entbehren. Oberst v.Dommes hatte sich angeboten, zu fahren, da er am entbehrlichsten erschien. Aber Moltke entschied sich für Hentsch, nicht zuletzt aus dem Grunde, "weil dieser schon einmal dort war" (General Kabisch, Marneschlacht). Es stellt sich nun die Frage, ob diese Maßnahme überhaupt legitim war? Hierzu ist zu sagen, daß es, seit es Kriege gab, von den obersten Führern Verbindungsorgane zur Überbringung von Befehlen und Meldungen eingesetzt worden waren. Da ansonsten nur eine ohnehin oftmals gestörte Funkverbindung bestand, und das noch nicht einmal zu allen Armeen direkt, blieb gar keine andere Wahl, als sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Dazu war es durchaus militärisch einwandfrei, daß, wenn der oberste Führer nicht selber fuhr, ein von ihm Beauftragter Offizier dieses Unternehmen durchführte. Der entscheidende Aspekt ist nur, welchen Auftrag hatte der entsandte Offizier bekommen? Vor allem in den Werken von General
Baumgarten-Crusius
"Deutsche
Heerführung im Marnefeldzug 1914" und im Reichsarchiv Band
4,
aber auch bei General Kabisch "Marneschlacht" finden wir etliche
Aussagen
der beteiligten Offiziere. Fest steht, daß der Auftrag nicht
schriftlich
erteilt wurde, daß keiner der Beteiligten ein Protokoll über
die Besprechung angefertigt hat, und daß auch Hentsch keinerlei
Aufzeichnungen
über seinen Auftrag während oder kurz nach der Besprechung
gemacht
hat! Dies ist durchaus als ungewöhnlich zu bezeichnen, denn bei
der
Bedeutung des Unternehmens hätte eine schriftliche Weisung
Unklarheiten
eher ausgeschlossen.
Von Moltke wissen wir von einer
Randbemerkung zum Kriegstagebuch
der 1.Armee, wohl vom Februar 1915. Hier heißt es, daß
"Hentsch
nur den Auftrag hatte, der 1.Armee zu sagen, daß - wenn der
Rückzug nötig werden sollte - sie in die Linie
Soissons-Fismes
zurückgehen solle, um so Anschluß an die 2.Armee zu
gewinnen.
Er hatte keineswegs den Auftrag zu sagen,, daß der Rückzug
unvermeidlich
sei". Auch in seinem Bericht über den Rückzug vom 26.Juli
1915
äußerte sich Moltke ähnlich. Diese
Äußerungen
werden von Mitgliedern der OHL, speziell von Hauptmann Harbou und
Oberst
Dommes, später im Wesentlichen bestätigt.
Einig sind sich alle Teilnehmer an der
Besprechung,
daß Hentsch vor allem die Lage klären sollte. Während
Tappen
und v.Dommes allerdings behaupten, daß Hentsch nur bei bereits
eingeleiteter
Rückwärtsbewegung die Richtung koordinieren sollte, sieht es
bei den Äußerungen Moltkes anders aus. Der Chef des
Generalstabes
will für den Fall Weisung erteilt haben, daß bei der 1.Armee
"der Rückzug nötig werden sollte".
Hentsch selbst hat in einem Bericht vom
15.September
1914 angegeben, er habe bestimmte Ermächtigung, "im Notfall eine
Rückwärtsbewegung
der 1. bis 5.Armee ..... anzuordnen." Von besonderer Bedeutung ist,
daß
seinerzeit niemand der Beteiligten gegen diese Aussage Einspruch
erhoben
hat. Ob sie allerdings in der damaligen dramatischen Zeit in der Lage
waren,
den Bericht überhaupt eingehend zu studieren, muß
fairerweise
auch in Frage gestellt werden.
Alles, was nach 1917 noch geschrieben wurde, geschah, als zwei der Hauptakteure schon verstorben waren, Moltke am 18.Juni 1916 und Hentsch selbst am 13.Februar 1918. Dieser Aspekt darf bei der Beurteilung der Aussagen nicht unberücksichtigt bleiben. Und noch ein Vorgang, der auch von
besonderer Bedeutung
ist, sollte nicht unerwähnt bleiben. Hentsch hatte täglich in
seiner Eigenschaft als Chef der Nachrichtenabteilung Sondervortrag bei
Moltke zu halten. Dies geschah auch am 8.September 1914, und zwar
n a c h der Besprechung, etwa zwischen 10.00 und 11.00 Uhr
vormittags.
Der Bürooffizier, Hauptmann König, bestätigt dies, und
er
spricht von einem Zeitraum von etwa einer Stunde, in der Moltke und
Hentsch
alleine gesprochen haben. Es liegt die Vermutung nahe, daß bei
dieser
Gelegenheit nochmals der Auftrag von Moltke erläutert wurde. Was
jedoch
im Einzelnen dabei zur Sprache kam, ist nicht überliefert.
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Hentsch bei den Armeeoberkommandos Um ca. 11.00 vormittags verließ
Hentsch im Kraftwagen
Luxemburg, begleitet nur von den Hauptleuten König und Koeppen.
Hier
fiel die Äußerung, daß Hentsch es für sehr
wichtig
erachte, zuerst bei den anderen AOK vorbeizufahren, um "mit einem
fertigen
Bild der Lage bei AOK 2 und 1 zu erscheinen" (General Kabisch in
"Marneschlacht",
auch Reichsarchiv Band 4). Über den Zustand Hentsch gibt es
unterschiedliche
aussagen. König behauptet er sei "geistig und körperlich
frisch
gewesen". Der damalige Hauptmann im Generalstab v.Cochenhausen
führt
aus, daß Hentsch geklagt hätte, "daß er sich nicht
wohl
fühle". Fest steht, daß Hentsch kurz vor Beginn des Krieges
eine Gallenkolik, verbunden mit hohem Fieber, gehabt hatte. Die
Stimmung
war, so König, "ernst aber n i c h t
pessimistisch"!
Gegen 20.00 Uhr traf Hentsch beim AOK 2
ein. Sein erster
Eindruck dort war nicht günstig. Ein irrtümlich zum Abmarsch
nach Norden bereitstehender Troß irritierte ihn. Nachdem
Generaloberst
v.Bülow von einem Gefechtsstand zurückgekommen war, sprach
Hentsch
mit ihm und dem Chef des Generalstabes, Generalleutnant v.Lauenstein.
Beide
machten auf Hentsch einen zuverlässigen und ruhigen Eindruck. Nach
den Aussagen der Beteiligten des AOK 2 war bis zu diesem Zeitpunkt von
Rückzug nicht gesprochen worden. Allerdings wurde die Lage wegen
der
Lücke zur 1.Armee als "durchaus ernst" (v.Bülow "Mein Bericht
zur Marneschlacht") angesehen. Der Oberbefehlshaber und Hentsch
stimmten
hierin völlig überein.
Nach einem kurzen Gespräch am nächsten Morgen mit Lauenstein trat Hentsch um 07.00 Uhr die Fahrt zum AOK 1 an. Über das Bild, daß sich ihm und seinen Begleitern hinter der Front im Bereich der Lücke bot, gibt es unterschiedliche Aussagen. Hentsch selbst spricht in seinem Bericht von "zurückflutenden Trainabteilungen und Verwundeten der Kavallerie-Divisionen. Koeppen sieht diese Aussage hingegen als übertrieben an. Von "panikartigen" Vorgängen hätte er, im Gegensatz zu Hentsch, nichts feststellen können. Hier scheint es, als ob Hentsch, der aus der Ruhe der OHL in Luxemburg kam, die Dinge wirklich überschätzt hat. Denn der Oberbefehlshaber der 1.Armee, Generaloberst v.Kluck, hat in einer Zuschrift an das Reichsarchiv ausdrücklich das gute Verhalten der Kolonnen und ihrer Führer gewürdigt. Die starke Vermischung der Verbände in der damaligen Situation war eigentlich ganz natürlich und hätte bei Hentsch keine Sorgen hervorrufen dürfen. Hauptmann König berichtete, daß Hentsch mehr und mehr die Überzeugung gewann, die 1.Armee m ü s s e zurückgehen. In seinem Bericht vom jahre 1917 hielt er sich spätestens jetzt für berechtigt, den Rückzug im Namen der OHL zu befehlen. Dabei war seine Überlegung die, daß ein freiwilliger Rückzug das verhindern sollte, was er bei einer Umfassung befürchtete: Eine Katastrophe! Gegen 12.30 Uhr traf Hentsch beim AOK 1
ein. Hier begann
sich gerade die morgens doch sehr gespannte Lage, bedingt durch das
Überschreiten
der Marne durch die englische Truppen, etwas zu beruhigen. Man war in
sicherer
Erwartung des Sieges auf dem rechten Flügel. Schon auf der
Dorfstraße
trafen der Chef des Generalstabes, Generalleutnant v.Kuhl, und Hentsch
zusammen und hatten ein erstes Gespräch. Kuhl wird von allen
Beteiligten
als absolut ruhig geschildert. Hentsch behauptet allerdings, Kuhl habe
gesagt, daß wenn "die zweite Armee ihre Flügel
zurückgebogen
habe,
wir uns auch nicht halten können" (Reichsarchiv Band 4). Kuhl
stellt
diese Äußerung in Abrede. Im übrigen wußte
Hentsch
ja vom Vortag von der Absicht Bülows, seinen rechten Flügel
zurückzunehmen.
Dennoch scheint er von der T a t s a c h e nun
überrascht
worden zu sein. Aus diesen Äußerungen will Hentsch
geschlossen
haben, daß "der allgemeine Rückzug bereits auch bei der
1.Armee
eingeleitet worden sei" (Reichsarchiv Band 4).
Sowohl Kuhl, als auch der
Oberquartiermeister Oberst
v.Bergmann, bestreitet auf das Äußerste, daß seitens
des
AOK 1 eine solche Äußerung gefallen sei. Auch die Begleiter
Hentschs haben nichts davon gehört. Möglicherweise hat
Hentsch
die erste Äußerung Kuhls tatsächlich in der Anspannung
der Lage falsch interpretiert.
Entscheidend ist nun die Frage, wie diese
Ausführungen
auf Hentsch gewirkt haben. General Kabisch schreibt in seinem Buch
"Marneschlacht"
davon, daß Hentsch die bekannten eingelernten Worte "ordre -
contreordre
- desordre" (Befehl - Gegenbefehl - Verwirrung) durch den Kopf
gegangen
sein könnten. Bergmann hatte jedenfalls den Eindruck, daß
nach
diesem Vortrage Kuhls Hentsch zum ersten Mal die w a h r e
Lage gesehen hatte. Er schreibt: "Die Überraschung war deutlich
auf
seinem (Hentschs) Gesicht zu lesen" (Reichsarchiv Band 4). Hentsch
sagte
in seinem Bericht vom jahre 1917, daß er anschließend
einige
Fragen gestellt habe. Die bedeutsamste war die: "Ob eine sofortige
Unterstützung
der 2.Armee möglich sei, und ob die 1.Armee imstande wäre,
die
2. am nächsten Tage mit ganzer Kraft zu unterstützen, wenn es
ihr gelänge, am 9. den eigenen Feind zu schlagen" (Reichsarchiv
Band
4). Erst als Kuhl dies mit dem Zusatz "mit Rücksicht auf den
Zustand
der Armee" verneint habe, habe er von seiner Vollmacht Gebrauch gemacht.
Allen Einwendungen von Kuhl und Bergmann
begegnete
Hentsch jedoch immer mit dem Hinweis, die 2.Armee hätte ihren
Rückzug
schon eingeleitet. Wieso er dies als T a t s a c h e
darstellte,
wird für immer ein Geheimnis bleiben. Möglicherweise g
l a u b t e er, daß der Vorgang schon eingeleitet worden
sei.
Kuhl gibt an, daß nach seinem
Nachfragen, wieso
Bülow zurückgehe, Hentsch geantwortet haben soll, "Die
2.Armee
sei nur noch Schlacke" (Reichsarchiv Band 4).
Diese Worte machten allerdings auf Kuhl und
Bergmann
einen tiefen Eindruck. Für sie war ausschlaggebend, daß die
Nachbararmee geschlagen war. Kurz und knapp befahl Hentsch den
Rückzug
mit der Bemerkung, diese Direktive bleibe maßgebend, auch bei
etwa
eingehenden anderweitigen Mitteilungen.
So waren die Würfel gefallen! Eine Rückfrage bei der OHL war wegen
der langwierigen
Funkverbindung nicht möglich, eine Telefonleitung bestand nicht.
Zweifel
seien sowohl Bergmann als auch Kuhl nicht gekommen, da Hentsch ruhig
und
überzeugend vorgetragen hätte.
General Baumgarten-Crusius spricht in seinem Buch "Deutsche Heerführung im Marnefeldzug 1914" von einem "psychologischen Rätsel", wie zwei Führernaturen vom Schlage Klucks und Kuhls sich in dieser Form haben überzeugen lassen. Verantwortungsscheu hatten sie bisher absolut nicht gehandelt. Hier sei nochmals, auch durch Oberst Schwertfeger, der Hentsch als Altersgenosse sehr gut kannte, daraufhin gewiesen, daß viele Hentsch als "Mann von Klarheit und absoluter Überzeugungskraft" schilderten. Waren Kuhl und Kluck dieser erlegen? Hentsch fuhr anschließend zum AOK 3, schickte aber Koeppen zum AOK 2 mit dem Auftrag, zu erläutern, wie der Rückzug vonstatten gehen sollte. Entgegen der Vereinbarung mit Kuhl wurde als linker Flügelpunkt der 1.Armee nicht Soissons, sondern Fismes genannt. Letzterer war der von Moltke bestimmte Punkt. Es bleibt ungeklärt, warum Hentsch bei Kuhl Soissons befohlen hatte. Zu allem Unglück kamen jetzt noch ein weiteres Mißverständnis hinzu. Um ca. 13.00 Uhr, als Hentsch noch beim AOK 1 war, lief bei Bülow ein Funkspruch ein, der von einem t a k t i s c h e n Zurückbiegen des linken Flügels der 1.Armee sprach und hierzu Aufträge an die Unterführer beinhaltete. Von der 2.Armee wurde dieser Funkspruch jedoch als die lang erwartete Antwort von Hentsch angesehen, der ja versprochen hatte, bei der 1.Armee die Lage zu klären. Man erblickte in dem Zurücknehmen des linken Flügels die Einleitung des allgemeinen Rückzuges. Hentsch schien also doch recht gehabt zu haben. Nun schien auch für Bülow der letzte Moment gekommen, sich doch noch vom Feinde absetzen zu können. Lauenstein entwarf persönlich die meldung an die OHL, in der es hieß: "Nach Mitteilung Hentsch geht 1.Armee zurück, linker Flügel ..." (Reichsarchiv Band 4)! Aus dieser erst 14.30 Uhr nachmittags abgegangenen Meldung wurden dann allerdings die Worte "Auf Mitteilung Hentsch" gestrichen - offenbar war aufgefallen, daß der Funkspruch vom AOK 1 und nicht von Hentsch unterzeichnet war. Geändert wurde an den Befehlen zum Rückzug jedoch nichts mehr. Beim AOK 3 wurde Hentsch um klare Mitteilungen ersucht. Dieser schilderte kurz die Situation. Hausen zitiert dann Hentsch in seinem Buch "Erinnerungen an den Marnefeldzug 1914" wie folgt: "Das AOK 3 möge daher auf seine Verantwortung (also auf Verantwortung des AOK 3 !) hin so handeln, wie das Oberkommando es mit Rücksicht auf die 2.Armee für richtig halte". In diesem Augenblick traf ein Funkspruch der OHL ein, der für die 3.Armee weiterhin die Offensive vorsah! Wieder Gegensätze und Durcheinander! Erst abends um 19.15 Uhr erhielt das AOK 3 Nachricht, das die 2.Armee im Zurückgehen begriffen war. Um 20.00 Uhr kam dann nochmals Nachricht von der OHL, die die Bewegungen der 2. Armee bestätigte. Nun beugte sich auch das AOK 3 dem Lauf der Ereignisse. Damit war bei der 1. und 2.Armee die Entscheidung gefallen, und die Kettenreaktion setzte sich entlang der Front über die 3. und 4. Armee bis zur 5. fort! Nach seiner Rückkehr ins Große Hauptquartier hatte Hentsch die Überzeugung, so schreibt er in seinem Bericht aus dem Jahr 1917, daß man mit seinen Maßnahmen durchweg einverstanden war (General Baumgarten-Crusius "Deutsche Heerführung im Marnefeldzug 1914"). |
Schlußbetrachtungen Wir wollen unsere Betrachtungen an dieser
Stelle abbrechen,
alles Weitere ist taktischer Natur und hat auf die strategischen
Auswirkungen
nur untergeordneten Einfluß. Sicher ist, daß diese
Ereignisse
von entscheidender Bedeutung für den Weltkrieg waren. Vieles ist
im
Dunkeln geblieben und wird wohl nie ans Tageslicht kommen. Einiges ist
unverständlich, aber wichtige Fragen konnten auch geklärt
werden.
Wir müssen also zusammenfassen,
daß 1. es
zumindest zweckmäßiger gewesen wäre, wenn Moltke selbst
gefahren wäre, daß 2. die Maßnahme an sich, einen
Offizier
in seinem Auftrag zu senden, nicht zu kritisieren ist, daß 3. die
Person des Chefs der Nachrichtenabteilung mit Sicherheit nicht die
richtige
gewesen ist, daß 4. sich Hentsch nicht aus welchen Gründen
auch
immer um diesen Auftrag bemüht hat und ihm falscher Ehrgeiz nicht
vorgeworfen werden kann und daß 5. Oberstleutnant Hentsch als
Mensch
und Offizier, wenn er denn schon fahren mußte, keinen
Beanstandungen
unterlag. Dies ist auch eigentlich völlig logisch, denn wenn er
menschliche
Schwächen, gleich welcher Art und Weise, gehabt hätte, dann
wäre
er auch auf seinem eigentlichen Dienstposten absolut fehl am Platze.
Kommen wir nun zu den Umständen der Auftragserteilung. Hier sticht eine Problematik ganz entscheidend hervor - das Fehlen jeglicher schriftlicher Weisung. Einen Offizier mit einem solchen brisanten Auftrag loszuschicken, ohne auch nur das Geringste schriftlich zu fixieren, grenzt schon an grobe Fahrlässigkeit. Hier kann auch das Problem des Zeitdrucks nicht als Argument gelten gelassen werden. Selbst eine handschriftliche Direktive hätte allen Beteiligten geholfen. Die Tatsache, daß bis heute Unklarheit darüber herrscht, ob Hentsch, und wenn ja unter welchen Umständen, Befehle im Namen der OHL erteilen durfte, beweist das. Moltke hätte sich selbst dadurch absichern können, und Hentsch wäre die Durchführung des Auftrags wesentlich erleichtert worden. Seine Befugnisse wären für a l l e Beteiligten klar umrissen gewesen. So bleibt nur das Fazit, daß Moltke hier sträflich versagt hat. Hentsch hat, und das ist durch mehrere Aussagen bestätigt worden, immer wieder das Fehlen eines schriftlichen Auftrags oder Vollmacht bedauert. Ihm kann man hier keine Schuld zuweisen. Bleibt noch zu besprechen, wie die
Durchführung
des Auftrags zu bewerten ist. Hier stehen wir vor dem großen
Problem,
daß wir die Befugnisse nicht haben klären können, weil
uns der genaue Wortlaut des Auftrags nicht bekannt wurde. Und dennoch,
es gibt eine Reihe von Hinweisen, die es Wert sind, abschließend
nochmals aufgezeigt zu werden. Bis zu seinem Aufenthalt beim AOK 3
schien
für Hentsch die Lage noch günstig zu sein. Dies beweist auch
die Meldung zu diesem Zeitpunkt an die OHL. Dann aber scheint es, als
ob
er, verstärkt durch die extrem unterschiedlichen Einflüsse in
Form von Meldungen und Besprechungen, immer stärker ins Schwanken
geriet. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, das
wird
immer wieder hervorgehoben. Aber die Unklarheiten nahmen doch zu. Man
ist
versucht zu sagen, daß die Last, die er trug, immer stärker
wurde. Und diese drückende Last schien ihn Dinge verwechseln zu
lassen.
Der unterschiedliche Gebrauch des Wortes "Schlacke" in Bezug auf die 1.
und 2.Armee, die mögliche mißverständliche
Interpretation
der Äußerung Kuhls bezüglich der linken Flanke der
1.Armee,
und ganz besonders das Beharren auf dem angeblichen Rückzugs der
2.Armee,
die schon geschlagen sein sollte, das alles sind Fakten, die zeigen,
daß
er vielleicht nicht mehr alle Vorgänge überblickte, daß
man ihn zu diesem Zeitpunkt als überfordert betrachten kann. Hier
wäre eben ein Mann wie der Chef des Generalstabes selbst oder ein
Offizier der Operationsabteilung besser am Platz gewesen. Egal wie der
Auftrag auch gelautet haben mag, Hentsch ist nicht vorrangig geschickt
worden, um den Rückzug a u f j e d e n F a l
l
zu befehlen, sondern, wenn überhaupt, nur im Notfall. Und dieser
Spielraum,
wenn es ihn gegeben hat, ist Hentsch zum Verhängnis geworden. Als
Nachrichtenoffizier aus dem ruhigen Hauptquartier in die Hexenkessel
der
Stäbe vorn zu kommen, dort alle Situationen sofort richtig
einzuschätzen,
die Last der Verantwortung für das Scheitern des Feldzugs mit sich
tragend, daß alles war wohl zu viel.
Es bleibt noch anzumerken, daß die OHL Hindenburg/Ludendorff nach dem Bericht von Hentsch im Jahre 1917 diesen "offiziell" von jeder Schuld freisprach, und diese Entscheidung bis zu den Divisionsstäben bekannt gegeben hatte (General Baumgarten-Crusius "Deutsche Heerführung im Marnefeldzug 1914"). An den oben angeführten Kritiken kann das jedoch nichts ändern, zumal andere Heerführer des Weltkriegs sich dem Urteil der OHL nicht angeschlossen haben. General v.Francois schreibt z.B. in seinem Buch "Marneschlacht und Tannenberg", daß Hentsch nicht ermächtigt war, einen Rückzugsbefehl zu erteilen. Nur bereits eingeleitete rückgängige Bewegungen durfte er im Namen der OHL dirigieren. "Er hat seine Befugnisse demnach überschritten und ist mitschuldig an dem großen Unheil, das der Rückzugsbefehl über uns brachte." So kann man letztlich nur mit den Worten des Generals v.Kuhl schließen, der in seinem Werk "Der Weltkrieg 1914/18" das traurige Fazit zieht: "Die Schlacht an der Marne war der Wendepunkt des Krieges." |
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