Hindenburg - der Schüler Schlieffens

Die Besonderheit des 3.Chefs des großen Generalstabs war sicherlich seine auf absolutem Vertrauen basierende Beziehung zu seinem engsten Mitarbeiter, General Ludendorff. Aber dieses Vertrauen hatten nicht nur diese beide Männer zueinander, sondern auch alle Mitarbeiter der HOL, der nachgeordneten Führung und nicht zuletzt auch die Truppen wußten, daß nun ein Mann an die Spitze des Heeres getreten war, der die Größe der vor ihm liegenden Aufgaben klar und deutlich erkannte und sie auch einzuschätzen vermochte. Auch die Verbündeten sahen in seiner Berufung einen wesentlichen Fortschritt in dem Verhältnis zueinander. Aber nicht nur der militärische Aspekt war von Bedeutung, auch die menschliche Seite wirkte sich sofort aus. Freundlich und entgegenkommend, ohne Spitzen und Schärfen, so trat Hindenburg allen entgegen. Sein Können hatte er schon unter Beweis gestellt, er brauchte nicht nach Ruhm zu lechzen. Seine Führung basierte auf seiner Persönlichkeit. Und die war mittlerweile in ein solchen Rampenlicht gerückt, daß sie ihn schon manchmal zu erdrücken schien.

Die Stellung, die er inne hatte, unterschied sich in einem wesentlichen Punkt von der aller anderen Chefs des großen Generalstabs, sowohl vor, als auch nach seiner Zeit. Zum einen hatte er in dem Ersten Generalquartiermeister eine "rechte Hand", wie sie bisher noch nicht vorgekommen war. Dieser hielt ihm den Rücken frei für die vielen anderen Aufgaben, die er in seiner Funktion nun übernehmen mußte. Denn er wuchs nun in eine Rolle hinein, die eigentlich dem Kaiser zustand, der ja formell der oberste Kriegsherr war. Aber Wilhelm II. war nicht mehr in der Lage, die Funktion auch nur zum Teil auszufüllen. Das lag allerdings nicht so sehr an seiner Person selbst, sondern an dem geradezu gigantischen Ausmaß, den der Krieg angenommen hatte. Noch im Kriege 70/71 konnte der König von Preußen, mit dem Chef des Generalstabs an seiner Seite, vom Pferde aus ein Schlachtfeld übersehen und so selber führen. Das war im Weltkrieg nicht mehr möglich. Hierzu kam dann noch verstärkend die für die Deutschen besondere Bedeutung, die Hindenburg mit seinem Siege bei Tannenberg begründet hatte. Diese "Befreiung Ostpreußens" hat ihm das Volk nie vergessen. Den "Cannae-Gedanken" des Grafen Schliffens, seines großen Lehrmeisters, immer vor Augen, schlug er eine Vernichtungsschlacht, wie sie im Weltkrieg nie wieder vorkam. Hier waren die Wurzeln des Vertrauens, das auch die einfachen Menschen, die keine Beziehung zur großen Kriegskunst hatten, ihm uneingeschränkt entgegenbrachten. Mit diesem Ruhm stelle er, ohne das er es selber forciert hatte, den Kaiser in eine Abseitsposition, aus der sich dieser selber nicht befreien konnte. So war eigentliche in der Praxis eine Situation geschaffen worden, die man etwa wie folgt beschreiben könnte:
Hindenburg wuchs zwangsweise in die Rolle eines Oberbefehlshabers des Heeres hinein und verdrängte dadurch unbewußt den Kaiser aus der Stellung als oberster Kriegsherr. Die eigentliche Funktion eines Chef des Stabes hatte General Ludendorff übernommen, dem 1918 - leider viel zu spät - dann Oberst Heue als sein Vertreter und zur Entlastung beigegeben wurde.

Damit kamen auf Hindenburg natürlich Aufgaben zu, für die der Chef des großen Generalstabs unter anderen Bedingungen gar nicht zuständig war. Jeder wendete sich an Hindenburg, vom Schüler bis zum Großindustriellen, alle trugen sie ihm seine Sorgen vor. Und der Feldmarschall war nicht der Mann, der die Nöte der Menschen nicht ernst nahm. So versuchte er - soweit es in seinen Kräften stand - auch überall zu helfen. Unter diesen Umständen war es ein Segen, daß das Gespann Hindenburg-Ludendorff an die Spitze des Heeres getreten war. 

Über Anteile der Feldherren an Erfolgen und Mißerfolgen zu philosophieren ist absolut müßig. Sicherlich bewegte sich im Bereich der schriftlichen Befehlsgebung Ludendorff öfter im Vordergrund. Aber in entscheidenden und schweren Momenten trat Hindenburg mit seiner ganzen Wucht der Persönlichkeit hervor. Nie hätte dieser Mann es getan, wäre es bloß für fremdes geistiges Eigentum gewesen. Es war eben immer auch sein Ziel, seine Meinung und Überzeugung. Niemals war Hindenburg nur der geschobene, die Puppe, alles entsprach voll und ganz auch seinem Wollen und Wesen. Sicherlich hat er in richtiger Erkenntnis seiner hohen Aufgabe sich mehr mit dem Bestimmen und Festlegen der großen Linie begnügt, während Ludendorff mit seinem Arbeitseifer dann die Bewältigung der Einzelheiten übernahm. Aber es steht auch außer Frage, daß der Feldmarschall so manches Mal durchaus mäßigend und beruhigend auf  überschäumende Ideen seines jüngeren Gefährten gewirkt hat. So kann man wohl mit Recht behaupten, daß die Ausführung der vielen Pläne Ludendorffs Angelegenheit war, die moralische Stütze aber war immer Hindenburg überantwortet. Daran änderte auch die Mitverantwortung des Ersten Generalquartiermeisters nichts.

Am 29.August legte der Kaiser das Schicksal des Volkes wie des Heeres in die Hände Hindenburgs und seines treuen Gehilfen. Die Ernennung von Foch im März 1918 ist für Frankreich von gleichwertiger Bedeutung, auch er war ein letzter großer Rettungsversuch im Weltkrieg. Und so zeigte gleich eine der ersten Taten, daß Hindenburg entschlossen war, dem Unglücksrad in die Speichen zu fallen: Die Verdunschlacht wurde eingestellt, sie glimmte allerdings zu diesem Zeitpunkt nur noch und hatte ihr Ziel schon lange verfehlt. Dann wurden an der Front nochmals neue Truppen geschaffen, eine Meisterleistung der Organisation, die in diesem Umfange von keinem Heer im großen Kriege nachgeahmt werden konnte. Auch die Divisionen, die man für den Rumänienfeldzug benötigte, wurden förmlich - trotz der tobenden Sommeschlacht - aus dem Boden gestampft. 

Aber auch im Inneren machte sich der Einfluß Hindenburgs bemerkbar. Es ging um die bewußte und zielsichere umfassende Heranziehung aller Kräfte des Landes zur Kriegführung. Das sogenannte Hindenburg-Programm war eine große moralische Aufschüttelung und stellte eine vernünftige "Arbeitsteilung" zwischen Heer und Heimat dar. Wenn dabei in mancher Hinsicht zu viel geschehen sein sollte, so war dies Gewiß kein schwerer Fehler.

Im Jahre 1917 wurde ein Entschluß gefaßt, den wohl keine andere militärische Führung in Deutschland hätte verantworten können. Überraschend wurde die Rückverlegung der Front im Westen vorgenommen und die Siegfriedstellung besetzt. Zahlreiche Divisionen konnte man nun als Reserven aussparen, ein langes Stück Front wurde begradigt und ist somit gesichert worden. Es war ein taktisch-strategisches Meisterstück, das im In- und Ausland, auch in der Nachkriegsliteratur, seine uneingeschränkte Anerkennung fand.

Im Osten stand man vor fast unlösbaren Aufgaben, bevor der Umsturz in Rußland die Situation schlagartig veränderte. Die großen Umfassungsschlachten, die Hindenburg ganz im Sinne seines Lehrmeisters Graf Schlieffen schlagen wollte, waren nicht zu Stande gekommen. Nun standen die Truppen im Westen und in Rumänien gefesselt, an einen Angriff durch die Mittelmächte war zu dieser Zeit nicht zu denken. Auch das Verhältnis der Streitkräfte zwischen der Entente und den Mittelmächten verschob sich mehr und mehr zu ungunsten der letzteren. Da schien die Revolution in Rußland doch noch eine Gelegenheit zu bringen, den Rücken im Osten frei zu bekommen. Kerenski war es gelungen, das russische Heer nochmals zum Angriff mitzureißen. Aber nach ersten örtlichen Erfolgen der Russen wendete sich dann schnell das Blatt. Mit relativ geringen Mitteln wurde, unter Befreiung der letzten besetzten Teile Österreichs, in Ostgalizien ein schöner Erfolg erzielt, der sein Ziel nicht nur militärisch, sondern auch politisch völlig erreichte. Das russische Heer blieb von da ab völlig gelähmt und ging seinem Verfall entgegen. Im Westen hatte inzwischen die große Flandernschlacht begonnen, es folgten monatelange blutige Kämpfe, die an Heftigkeit den Somme- und Verdunschlachten nicht nachstanden. Beide Gegner rangen erbittert bis zum Jahresende miteinander, dann waren sie erschöpft. Aber von Bedeutung war doch letztlich, das alle Fronten gehalten hatten. Denn nun taten sich neue Möglichkeiten auf. Bedingt durch den Ostfrieden bestand noch einmal die wohl letzte Chance, einen entscheidenden Sieg im Westen vor dem Eintreffen der Amerikaner zu erkämpfen.

Doch während die ersten Gedanken in dieser Richtung langsam Gestalt annahmen, überschlugen sich die Ereignisse an allen Fronten. In Italien wurde zusammen mit dem Bündnispartner Österreich eine glänzende Waffentat vollbracht. Der Durchbruch durch die Alpenstellungen der Italiener und der Vormarsch zum Tagliamento und zur Piave brachte endlich die erforderliche Entlastung und moralische Stützung, die die Donaumonarchie so bitter nötig hatte. Im Osten wurde an der Nordfront den Russen bei Riga ein letzter schwerer Stoß versetzt, der als strategisches Nebenziel noch die Bedrohung Petersburg in sich einschloß. Doch auch im Westen flammte es noch an verschiedenen Stellen auf. Bei Verdun, an der Laffaux-Ecke und bei Cambrai stießen Truppen der Entente vor. Während die Franzosen noch mal Erfolge zu verweisen hatten, glückte es bei Cambrai, die Engländer nach ihrem großen Tankangriff in einem Gegenstoß zurückzuwerfen. So schloß das Jahr 1917 mit Mißklängen, aber auch mit berechtigten Hoffnungen ab.

Trotz und wegen der täglicher schwerer werdenden inneren Verhältnisse bereitete Hindenburg mit aller ihm zur Verfügung stehender Macht den Feldzug im Jahre 1918 an der Westfront vor. Nur militärische Erfolge konnten die Lage noch wenden.  In richtiger Erkenntnis dieser Lage wurde der wichtige Entschluß gefaßt, den Kampf angriffsweise zu führen. Der Feldmarschall erkannte die Gefahr eines schweren psychologischen Irrtums, zu denken, daß der Verteidiger gleiche Befriedigung wie der Angreifer empfinden könne. Dennoch war keine Garantie zu geben, das war selbst dem Feldherrn nicht möglich. Die taktische, moralische und strategische Überlegenheit war nicht so groß, um den Erfolg sicher zu verbürgen. Er schien aber mindestens im Bereich des Möglichen zu liegen. Nicht zu unterschätzen waren bei einem Übergang in die reine Verteidigung auch die nichtmilitärischen Umstände, wie z.B. die Hungersnot, Unruhen oder Streiks oder auch die Gefahr des Abspringens von einzelnen Verbündeten. Gerade diese Bedenken aber lassen einen Erfolg des Verteidigungsverfahrens mindestens ebenso fraglich erscheinen, wie den des Angriffs. 

Das Hindenburg dafür eintrat, daß der Angriff gegen die englische Front gerichtet wurde, war im politischen Sinne richtig, da die Engländer als die führende Macht anzusehen und unmittelbar am besten zu treffen waren. Ebenso galt dies sowohl im strategischen als auch im taktischen Sinne, da sie mit dem Rücken zum Meer fechtend nur eine verhältnismäßig kurze Rückzugsmöglichkeit hatten. Über die Details der verschiedenen Angriffe soll hier nicht geurteilt werden. Dies bleibt einer separaten Abhandlung überlassen. Fest steht allerdings, das keiner der vier großen Angriffe die endgültige Entscheidung brachte, so nahe der strategische Durchbruch auch teilweise war. Im Sommer wendete sich dann das Blatt, und die nun folgenden starken Gegenangriffe drückten die deutschen Truppen wieder in die Verteidigung. Von nun an folgten die langwierigen und blutigen Rückzugskämpfe bis zum bitteren Ende. 

Auch auf politischer Ebene war der Kampf im Inneren entbrannt. Der Reichskanzler Prinz Max von Baden und Ludendorff fanden keinen gemeinsamen Nenner. Am 26.Oktober 1918 trat der Erste Generalquartiermeister ab, und auch der Kaiser ging wenige Tage später in das Exil nach Holland. Das Heer sah sich in diesen schweren Stunden zuerst führerlos, in der Etappe streunten rote Agitatoren und plünderten Depots, verkauften Pferde und Wagen, sabotierten die Kommunikation und sorgten dadurch für eine Situation, die nicht mehr beherrschbar erschien. Doch Hindenburg blieb trotz oder gerade wegen der Umstände auf seinem Posten, um die müden und abgekämpften Truppen vor noch schwereren Erschütterungen zu bewahren. Auch die neue Reichregierung erkannte nach der Revolution sehr schnell, welche Bedeutung die Person des Feldmarschalls hatte. Auf ihre Bitten hin führte Hindenburg nun das deutsche Heer nach dem Waffenstillstand in die Heimat zurück, und man kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, daß es seiner Persönlichkeit zu verdanken war, daß dieser halbwegs geordnete Rückzug überhaupt noch zu Stande gekommen ist. "Ich stehe weiterhin an der Spitze des Heeres" schrieb er, und das reichte für viele Frontsoldaten, um ihm trotz aller widrigen, teilweise sogar chaotischen Umstände weiterhin treu zu folgen. So konnten noch viele tausend deutsche Soldaten vor einer drohenden Gefangenschaft gerettet werden. Sie haben das Hindenburg nicht vergessen.

So schreibt der amerikanische General Pershing mit einem gewissen Zorn in seinen Erinnerungen, es sei ihm ein unerträglicher Gedanke, daß Deutschlands Heer mit besiegten, aber nicht entehrten Fahnen, hoch erhobenen Hauptes abzog, statt entwaffnet abgeführt zu werden. Diesen letzten moralischen Triumph hatte sich Hindenburg wohl verdient, es war wie eine Gerechtigkeit des Schicksals, daß dem Gegner das höchste Ziel, das er anstrebte, versagt blieb.


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