Die besondere Geschichte

Der folgende Abschnitt, der die Geschichte des Dorfes Naunheim bei Wetzlar im 1. Weltkrieg erzählt,  ist in weiten Teilen dem Buch "Naunheim, ein Dorf erzählt seine Vergangenheit" von Heinrich L. Kern (+) und Manfred Kern entnommen worden. Herr Manfred Kern war so freundlich, und hat mir die Veröffentlichung gestattet. Hierfür danke ich ihm herzlich.

Diese Geschichte ist deswegen so interessant, weil sie in beeindruckender Weise die Auswirkungen des Krieges auf das dörfliche Leben in Naunheim schildert. Wohl selten ist es einem Autor gelungen, sowohl lustige Begebenheiten als auch Schicksalsschläge, immer bezogen auf den einfachen Bürger, in so realen Formen zu schildern. 


 
 
1914

Die allgemeine Stille der 1.Hälfte 1914 sollte plötzlich in den ersten Tagen des Juli unterbrochen werden. Vom 25. bis 27. Juli waren in Waldgirmes und Naunheim die 21.Pioniere gelegentlich einer Übung einquartiert. Es verbreitete sich die Kunde von dem Ultimatum Österreichs an Serbien. Die allgemeine Spannung nahm mehr und mehr zu. Wie dumpfe Schwüle vor dem Gewitter lastete es in jenen Tagen des Juli 1914 auf den Völkern Europas. Der Fürstenmord am österreichischen Thronfolger Erzherzog Ferdinand und seiner Gemahlin am 28. Juni 1914 war der Funke gewesen, der den Weltbrand entfachen sollte.

Am Samstag, den 1. August, abends um 18.35 Uhr wurde durch die Ortsschelle verkündet: Mobilmachung befolen, erster Mobilmachungstag der 2. August.

Jeder Reservist hat grundsätzlich nach der Entlassung aus dem aktiven Militärdienst seine Kriegsbeorderung mit Zeit und Ort der Einfindung mit nach Hause bekommen. Die Arbeiter, die am Samstagabend von der Schicht nach hause kamen, werden von der Mobilmachung überrascht. Schon früh am Sonntag müssen zwei Marinesoldaten einrücken. Im Laufe der Woche folgen 50 weitere Reservisten. Treffpunkt ist der "Hiwwel". Abgereist wird durchwegs nachts, da bei Tage die Eisenbahnzüge überfüllt sind.

Pfarrer Anthes hat die Gemeinde und die einem ungewissen Schicksal entgegenziehenden Soldaten zu einem Gottesdienst in die Kirche gebeten. Die Stimmung der Männer ist voller Zuversicht. Singend zieht man mit Gepäck zum Bahnhof nach Wetzlar. Weihnachten wollen sie wieder zu Hause sein!

Getrübt werden die Gemüter allerdings schon, als man hört, daß neben Frankreich und Rußland auch England den Krieg erklärt hat. Die anfänglichen siegreichen Vormärsche in Belgien und Frankreich beruhigen die Menschen. Aufregung verbreitet eine Meldung, daß sich Spione mit Kraftwagen auf der Durchfahrt durch Reichsgebiet befinden. Die Naunheimer bauen Straßensperren: In der Wetzlarer Straße bei der "Mulche Foath" (heute zwischen den Metzgereien Schäfer und Neeb) werden 2 Leiterwagen, besetzt mit bewaffneten Ortsbürgern, aufgefahren. An der Längerbachbrücke nach Waldgirmes und am "Gefäll" nach Niedergirmes hin, steht eine Wache. Sobald ein Auto gesichtet wird,  gibt die Wache ein Hornsignal. Daraufhin schieben die Männer an der Straßensperre im Ort die beiden Leiterwagen quer auf die Straße. Man läßt das Auto erst passieren, wenn Papiere und Autoinhalt geprüft und in Ordnung befunden sind.

Bereits in der zweiten Kriegswoche erreichen die ersten Gefallenenmeldungen das Dorf. Am 6. August ist der 21-jährige Karl Grumbach bei Lüttich in Belgien gefallen. Am 1. September folgt die Todesnachricht des Schreinergesellen Heinrich Maxeiner, und am 28.September ereilt als ersten Familienvater Ludwig Dokter der Soldatentod. Die traurige Bilanz des Jahres 1914 beträgt 11 Tote und 2 vermißte. Pfarrer Anthes hält für jeden Gefallenen einen Gedächtnisgottesdienst.


 
 
1915

Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung der Zivilbevölkerung sind 1914, vor allem auf dem Lande, noch nicht spürbar. Lediglich beim Brotbacken wird 10% Kartoffelmehl verwendet.

Das Jahr 1915 fordert von Naunheim die höchste Zahl der Todesopfer während während des Krieges. 21 junge Naunheimer müssen Ihr Leben lassen. Bis zum März 1915 sind 150 Männer in den Krieg gezogen, mehr als 10% der Einwohner.

Auf dem Gelände nahe dem Büblingshäuser Hof entstehen Baracken für ein großes Kriegsgefangenenlager.  Oft kommen Gefangenentrupps in Begleitung von Wachleuten nach Naunheim, um in der Lahn zu baden. Als Kriegsgefangene sieht man in Wetzlar Franzosen, Belgier, Engländer und Russen.

Regelmäßig pflegen Frauen und Kinder zum Bahnhof Wetzlar zu gehen. Hier rollen Truppentransport- und Lazarettzüge durch. Man hofft, unter den vielen Hunderten aus den Abteilfenstern schauenden und den auf den Dächern der mit Blumen geschmückten Waggons sitzenden Soldaten auch einmal ein bekanntes Gesicht zu erblicken. Manche haben Glück dabei.

Die Gebäude der ehemaligen Unteroffiziersschule in Wetzlar (später Spilburg) sind als Lazarette eingerichtet und voll mit Verwundeten belegt.

Nunmehr setzt die Bewirtschaftung der Lebensmittel im ganzen Kaiserreich ein. Die Tagesration an Brot beträgt 250 g pro Kopf. Schwerarbeiter in Landwirtschaft und Industrie erhalten Zulagen.

Die Gemeinde gibt an die Landwirte "Mahlkarten" aus. Ohne deren Vorlage dürfen Mühlen kein Getreide mahlen.

Ein trockener Sommer hat die Futtermittel knapp werden lassen. Vieh wird verkauft, die Bestände allgemein bleiben klein. Roggen und Kartoffeln bringen gute Ernten. Das Sommergetreide gedeiht mäßig.

Viele Mädchen aus Naunheim müssen jeden Tag zu Fuß zur Arbeit in die Rüstungsindustrie. Buderus, Leitz, Pfeiffer und andere Betriebe sind auf Kriegsproduktion umgestellt worden.

Geld ist in den Familien noch vorhanden. Die erste Kriegsanleihe fällt jedoch gering aus. Bei der zweiten Zeichnung kommt dann ein Betrag von 83 000 Mark zusammen.


 
 
1916

Aus Naunheim werden 10 Kriegstote, unter ihnen der junge Flieger Heinrich Bill, gemeldet. Ein Soldat bleibt vermißt.

Das dörfliche Leben steht im 3.Kriegsjahr nun deutlich unter dem tiefen Eindruck des schrecklichen Krieges. In der Kirche finden außer dem regelmäßigen Vor- und Nachmittagsgottesdienst am Sonntag noch eine Kriegsgebetsandacht sowie Gottesdienste an Wochentagen statt. Frauen und Mädchen nähen Wäsche und Lazarettbekleidung für die Verwundeten.

Aus den ehedem lustigen Spinnstuben werden stille Zusammenkünfte. Die jungen Männer fehlen.

Naunheim zeichnet 1916 eine Kriegsanleihe von 100 000 Mark. Selbst die Schulkinder werden zum Geben angehalten. Sie bringen 2515 Mark auf.

Von der Schule angeregt, wird die Aussaat von Sonnenblumensamen zur Gewinnung von Öl und Fett verstärkt betrieben. Der Herbst beschert eine reiche Obsternte. Beim Verkauf werden bereits inflationäre Preise bezahlt. Zwetschgen- und Apfelpreise bewegen sich zwischen 10 und 60 Mark je Zentner.

Unter der Aufsicht der Lehrer ziehen im Herbst die Schulkinder in den Wald und lesen Bucheckern auf. Das Sammelergebnis beträgt 5 Zentner.

Vieh- und Futterbestände werden genau registriert. Was der Kommission entbehrlich erscheint, kommt zur Ablieferung!

Aus Brennesseln und Papier stellt man Kleider- und Wäschestücke her! Böse erwischt es einen spät heimkehrenden Industriearbeiter. Mit knurrendem Magen fällt er über eine seltsame "Pampe" her, die auf dem Herd kocht. Mit etwas Salz "arbeitet" er die vermeintliche Speise in den Magen. Seiner heimkommenden Frau klagt er später über "Leibschmerzen". Jene erschrickt und teilt ihm mit: "Um Himmelswillen, Mann! In der Schüssel hatte ich dein neues Sonntagshemd eingeweicht!"


 
 
1917

Die beiden Anfangsmonate bringen strenge Kälte. Das Eis auf der Lahn erreicht eine Stärke von 45 cm. Wegen Kohlemangels fällt der Schulunterricht drei Wochen lang aus. Die 1.Klasse der Schule zeichnet eine Kriegsanleihe von 1474 Mark. Gegenstände aus Kupfer und Zinn werden eingezogen. Selbst die goldenen Eheringe legt man auf den "Altar des Vaterlandes". "Gold gab ich für Eisen!" Die Heimat opfert.

Im Laufe des Jahres tritt ein beängstigender Mangel an Schuhwerk auf. Die Schuhmacher können die Reparaturarbeiten kaum noch bewältigen. Der "Vaterländische Frauenverein" erteilt Kurse zur Selbstherstellung von Schuhwerk aus Textilresten, Zeltbahnfetzen usw.

Täglich geschehen Felddiebstähle. Im Dorf mehren sich die nächtlichen Einbrüche. Anfang Dezember dringen Diebe bei Nacht in das stillgelegte Sägewerk der Gebrüder Dokter am Ortsausgang nach Waldgirmes ein und stehlen sämtliche wertvollen Chromledertreibriemen.

Die Ernährunglage wird immer katastrophaler. Die Bauersleute versuchen selbsterzeugte Lebensmittel durch Verstecken der Ablieferung zu entziehen. Nachts werden Kälber "schwarz" geschlachtet. Geschlachtete Schweine müssen in Anwesenheit eines Kontrolleurs gewogen werden. Man versucht, durch Tricks das Schlachtgewicht herunterzudrücken. Beim geringsten Verdacht einer Unterschlagung greift die Polizei ein. Täglich kommen aus Wetzlar Frauen und Kinder mit Rucksack und Tasche zum "Hamstern" auf die Dörfer.

Wiederholt beteiligt sich die Gemeinde Naunheim an Hilfsaktionen für notleidende Großstadtkinder. So kommen u.a. 40 Kinder aus Frankfurt/Main in verschiedene Privathäuser, wo sie sich einmal richtig satt essen können.

Leider hören die Todesnachrichten nicht auf. So fällt u.a. im fernen Rumänien während der Kämpfe am Sereth der junge, zweifache Familienvater Ludwig Failing.


 
 
1918

In diesem Jahr sind es von Februar bis Oktober noch einmal 7 Gefallene, die der Krieg von Naunheim fordert. 269 Naunheimer Männer stehen nun im Krieg. Die Einwohner beteiligen sich noch einmal an der Zeichnung einer Kriegsanleihe, der achten. Die Ludendorff-Spende bringt nochmals Geld in die Kriegskasse.

Gegen Ende des Sommers werden mehrmals feindliche Kampfflieger gesichtet. Einzelne Fliegerbomben fallen auf Buderus. Nach einem Luftgefecht landet eine beschädigte deutsche Maschine in den Garbenheimer Wiesen.

Im Spätherbst verbreitet sich eine lebensbedrohende Grippewelle im ganzem Land. Die allgemeine Unterernährung leistet der heimtückischen Krankheit Vorschub. Naunheim hat 16 Grippetote zu beklagen. In der Familie Ludwig Neeb sterben in wenigen Tagen Vater, Mutter und ein dreijähriger Sohn. Der älteste, ahnungslos zurückkehrende Sohn findet nur noch ein leeres Elternhaus vor. 

Die Nachricht vom Waffenstillstand (11.November) löst allgemeine Erleichterung aus, die ausgebrochene Revolution läßt ernste Bedenken aufkommen. Um Weihnachten ist die Mehrzahl der Naunheimer Kriegsteilnehmer, die überlebt haben, nach Hause zurückgekehrt. Naunheim bekommt gegen Ende des Jahres Teile der zurückflutenden deutschen Armee zu Gesicht. Das Dorf erhält Einquartierungen.

52 Tote und 4 Vermißte hat Naunheim in den vier Kriegsjahren zu beklagen. Rechnerisch bedeutet das 4,11 % der Bevölkerung. Das Deutsche Reich verzeichnet 2,35 % Verluste. Den gefallenen und vermißten Söhnen weiht die Gemeinde am Totensonntag 1929 in einer Feierstunde in der Kirche eine große Marmorgedenktafel.


Zurück
Startseite