Der unbekannte 80er

Vorwort

Jeder Tote im Krieg hat seine eigene Geschichte. Nicht jeder ist ein Held, gar mancher ist einen stillen Tod gestorben. Es wäre daher eine Herabsetzung aller anderen, würde man das Schicksal eines bestimmten Einzelnen höher bewerten als das aller anderen. Dies soll diese Erzählung auch nicht bezwecken.
Sie soll viel mehr als Beispiel dafür stehen, welche rätselhaften Dinge an das Tageslicht treten können, n a c h d e m ein Soldat gefallen ist, und wie kleine, zuerst unbedeutende Episoden auf einmal eine ganz andere Bedeutung bekommen können. Der Schwerpunkt soll daher nicht so sehr auf dem militärischen Teil der Geschichte liegen - er dient quasi nur als eine Rahmenhandlung - sondern auf dem rätselhaften Schicksal, daß sich hinter einem Menschen verborgen hat und noch verbirgt. 
Diese Erzählung stammt aus der Regimentsgeschichte des Landwehr-Infanterie-Regiments Nr.80. Das Buch ist 1937 im Matthias-Grünewald-Verlag in Wiesbaden erschienen, der Autor ist Dr. Fritz Spandau.


 
Die Geschichte

Oberleutnant d.L. Sauer von der 8.Kompagnie des Landwehr-Infanterie-Regiments Nr. 80 war am 23./24. Februar 1915 mit einer stärkeren Patrouille am Bernhardstein, 600 m südlich vom Col de Ste.Marie, gegen die feindliche Stellung vorgegangen. An der Patrouille nahmen teil: Uffz Neujochs mit den Wehrmännern Zurnieden, Millemann und Butschkau, Uffz Haus mit den Wehrmännern Bewerunge, Lamberti und Fischer, Uffz Martin, Gefr Sönnecken und Wehrmann Heydecker. Von den Teilnehmern wurde Wehrmann Zurnieden durch einen Bauchschuß schwer verwundet. Nur mit größter Anstrengung gelang es, den Verwundeten Kameraden zurückzubringen und ins Feldlazarett nach Markirch schaffen zu lassen, wo er leider trotz der sorgsamsten Pflege seinen Verletzungen erlag. Über das eigenartige Schicksal, man möchte sagen Rätsel dieses Menschenlebens berichtet nachstehend Oberleutnant Sauer:
 

Auszug aus der Verlustliste des LdwInfReg Nr.80

"Zwei Tage später brachte unser Bataillons-Kommandeur Major Ulfert dem schwerverwundeten Kameraden Zurnieden das Eiserne Kreuz 2.Klasse in das Feldlazarett nach Markirch. Ich selbst wurde an demselben Tage abkommandiert zu einem Handgranatenkursus und besuchte unseren tapferen Zurnieden ebenfalls im Lazarett. Als er mich sah, erkannte er mich sofort und redete mich mit meinem Dienstgrad und Namen an. Der ihn behandelnde Stabsarzt und die Krankenschwester wunderten sich darüber, da er vor einer Stunde seinen Bataillons-Kommandeur, der ihm das Eiserne Kreuz brachte, nicht erkannt und ihm auf seine Frage keine Antwort gegeben hatte. Ruhig und zufrieden lag er in seinen Kissen. Er drückte mir die Hand und legte sie auf sein Eisernes Kreuz, das an seiner Bettdecke angeheftet war. Im Flüsterton sagte er zu mir folgendes: "Die Schwester soll das Eiserne Kreuz unten an die Füße auf ein Kissen stecken, damit ich es immer sehen kann!" Dieses wurde sofort ausgeführt, seine schon umflorten Augen leuchteten wieder auf und sein Gesicht überzog ein zufriedenes Lächeln. Ich sprach ihm guten Mut zu, nahm Abschied von ihm und sah, wie sein Blick mir folgte, bis ich in der Tür stand und ihm nochmals zuwinkte. Ich wußte, daß ich ihn nicht mehr wiedersehen würde. Als ich nach zehn Tagen von dem Kursus aus St.Blaise zurückkam, lag Zurnieden schon auf dem Friedhof in Markirch. Ich brachte ihm eine Blume auf sein Grab, bevor ich wieder hinauf in Stellung ging.
 

Der frühere Militär-Ehrenfriedhof in Markirch

Von der Kompagnie ging die Meldung über den Heldentod des Wehrmanns Zurnieden an seine in der Stammrolle angegebene Heimatbehörde, einem kleinen Städtchen in Westfalen. (Anm.: es handelt sich um den Ort Letmathe) Doch bald darauf kam die Meldung zurück, daß der Name Zurnieden dort unbekannt und auch nirgends in den Standesamtslisten oder Kirchenbüchern verzeichnet wäre. Eine Umfrage bei seinen ihm am nächsten stehenden Kameraden in der Kompagnie konnte über die Heimat und den Geburtsort des gefallenen Wehrmanns Zurnieden keine Auskunft geben. Ich selbst hatte mich dann bemüht, in dieses Dunkel Licht zu bringen und konnte folgendes feststellen:

Als zu Anfang August 1914 nach der Mobilmachung die Reservisten und Landwehrleute zu ihren Gestellungsorten eilten, zog auch ein Trupp Gestellungspflichtiger in heiliger, vaterländischer Begeisterung ihre alten Soldatenlieder singend, die Landstraße dahin nach ihrem Garnisonsort Wiesbaden. Unterwegs kamen sie an einem Landstreicher vorbei, der lässig im Straßengraben saß und seinen Hut den Vorüberziehenden zur Begrüßung entgegenschwang. Die vordersten Gruppen machten ihre Witze über den schon älter aussehenden, aber trotzdem mit vollen roten backen dasitzenden "Speckjäger". Als die Mitte des Trupps an ihm vorbei war, sprang er behend auf, riß die Hacken zusammen, machte mit seinem Knotenstock "Gewehr über", dann den Präsentiergriff und rief: "Jawohl, ich war auch Soldat, meine Kameraden!" Als der Trupp vorbei war, ahmte er vorschriftsmäßig mit seinem Stock "Gewehr ab" nach und meldete sich bei dem schließenden Gefreiten in soldatischer Haltung mit den Worten "Zur Stelle!" Der Gefreite befahl ihm kurz militärisch: "Eintreten!" Der Landstreicher war eingereiht in die marschierende Kolonne der Vaterlandsverteidiger, aber auch in die Reihen der Todgeweihten. In Wiesbaden lieferte der führende Unteroffizier (Anm.: der den Vorgang wohl gar nicht mitbekommen hatte) einen Mann mehr ab, als ihm vom Bezirkskommando in Höchst am Main übergeben war. Bei der Einteilung auf die Kompagnie kam dieser Trupp zur 2.Kompagnie Ersatzbataillon Landwehr-Infanterie-Regiment Nr.80. Hier stellte es sich heraus, daß ein Mann seinen Militärpaß nicht abgegeben hatte. Unser "Speckjäger" trat vor die Front und gab an, daß er seinen Paß verloren hätte. Der Kompagnieführer, ein Gardehauptmann d.R. , im Zivilberuf Oberregierungsrat, befahl dem Unvorsichtigen einzuterten, er soll sich besinnen, wo er den Paß verloren hätte, damit Nachforschungen angestellt werden könnten. Der Kompagniefeldwebel notierte sich den Fall, um beim zuständigen Bezirkskommando die Überweisungsnationale anzufordern. Bei der Aufnahme in die Kriegstammrolle konnte sich der Feldwebel nur auf die eigenen Angaben des Mannes stützen. Er nannte seinen Namen, Gebirtsort und sonstige erforderliche Personalangaben. Der Wehrmann Zurnieden wurde mit seinen anderen Kameraden eingekleidet, tat unter diesem Namen Dienst und rückte mit dem ersten Ersatz im September 1914 zum Landwehr-Infanterie-Regiment Nr.80 ins Feld.

Wehrmann Zurnieden war dann einer der Tapfersten der 8.Kompagnie und gab sein Leben für sie.

In Reih und Glied, bei seinen anderen gefallenen Kameraden, schläft Wehrmann Zurnieden auf dem Soldatenfriedhof in Markirch als unbekannt gebliebener 80er.

Aber wer kennt seinen Namen, seine Heimat? Oft hat er erzählt, von seinen Fahrten in Indien, Sumatra und Afrika. Seinen richtigen Namen hatte er sicher nicht angegeben, ob es stimmte, weiß ich nicht, seine Lippen sind verschlossen für immer, er nahm ein Geheimnis mit in sein Heldengrab.

Bei uns allen, die ihn kannten, lebt er fort in treuem Gedenken als der tapfere Kamerad Zurnieden von der 8./LdwInfReg 80."


 
Nachwort

Sucht man im Jahre 2003 in dem Register des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. nach dem Namen "Zurnieden", so erhält man folgenden Auszug:

Nachname: Zurnieden
Vorname: Heinrich
Dienstgrad: Wehrmann
Geburtsdatum: 
Geburtsort: 
Todes-/Vermisstendatum: 02.03.1915
Todesort:

Heinrich Zurnieden ruht auf der Kriegsgräberstätte in Ste.-Marie-aux-Mines (Frankreich) Endgrablage: Block 2 Grab 95)
 

Der Friedhof in Markirch (Ste.-Marie-aux-Mines)
heute im Jahre 2003

Wehrmann Zurnieden ruht also noch heute in seinem Grab aus dem Jahre 1915 in Ste.-Marie-aux-Mines, dem damaligen Markirch. Sein Geheimnis ist nie gelüftet worden.


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